Protein Engineering ist wie die Suche nach dem passenden "Schlüssel" für das "Schloss" einer Krankheit. Foto: CC0 (Stencil)
Protein Engineering ist wie die Suche nach dem passenden "Schlüssel" für das "Schloss" einer Krankheit. Foto: CC0 (Stencil)

Der Schlüssel muss ins Schloss passen

Medikamente sollen am besten nur an dem Ort wirken, wo sie auch gebraucht werden. Unter dem Begriff „Protein Engineering“ entwickeln Wissenschaftler daher Eiweißmoleküle, die mit ihren Eigenschaften ganz gezielt in einen Krankheitsablauf eingreifen können. Anders gesagt, bedeutet das: Sie versuchen Schlüssel zu entwerfen, mit denen sie das „Schloss“ einer Krankheit knacken können.

Proteine, auch Eiweiße genannt, sind elementare, natürliche Bausteine allen Lebens. Zu ihnen gehören beispielsweise Enzyme, die Nahrungsbestandteile zerlegen und Giftstoffe unschädlich machen. Zu ihnen gehören aber auch vom Immunsystem gebildete Antikörper, die Krankheitserreger im Körper bekämpfen. Diese Eigenschaften machen sich Wissenschaftler für die Entwicklung zielgerichteter Arzneimittel zu Nutze. Dazu müssen sie den Bauplan der natürlichen Proteine verändern – oder neu entwerfen. Das Ziel ist ein Medikament, das spezifisch bestimmte krankheitsrelevante Mechanismen, sogenannte „Targets“ einer Erkrankung angreift.

„Denken Sie an das Schlüssel-Schloss-Prinzip: Wenn man eine Tür aufschließen will, braucht man einen ganz bestimmten Schlüssel für genau diese Tür“, erklärt Prof. Dr. Jochen Salfeld, Vizepräsident Biologics Discovery bei AbbVie. „Das Schloss ist in unserem Fall die Zielstruktur, die wir mit einem Arzneimittel modifizieren wollen. Dazu muss man einen Schlüssel entwerfen, der genau zu diesem Schloss passt.“

Ein neuer Bauplan muss her

©AbbVie
©AbbVie

Um das zu schaffen, braucht es in erster Linie eines: ein tiefgehendes Verständnis von der jeweiligen Erkrankung. Nur so können die Wissenschaftler geeignete Targets identifizieren. „Am Anfang fokussieren wir uns – mit dem Endergebnis im Hinterkopf – auf die Biologie einer Erkrankung“, erzählt Philip Tagari, Vizepräsident Therapeutic Discovery bei Amgen. In diesem Zuge werden auch die gefundenen Targets genauer unter die Lupe genommen. „Dann fragen wir uns: Welche Art von wirkstoffartigen Molekülen bräuchten wir, um diese Biologie zu verändern?“ Der Schlüssel zum Erfolg sei es, sich das gewünschte Ergebnis genau vorzustellen: Wie soll das Medikament später einmal wirken?

Aus dieser Forschung heraus entwickeln die Wissenschaftler erste Ideen für den neuen Bauplan bzw. das neue „Design“ eines Proteins. Die Grundvoraussetzung: Es muss in der Lage sein, an ein Target einer Erkrankung zu binden – und es auf diese Art und Weise zu hemmen, zu aktivieren oder sogar zu zerstören. Daraus entstanden verschiedene Ansätze. Zum einen sind da sogenannte Antikörper-Wirkstoff-Konjugate. Hier ist es ein modifizierter Antikörper, der auf eine bestimmte Zielstruktur einer Erkrankung ausgerichtet ist. An ihn wird ein Wirkstoff, zum Beispiel ein kleinmolekulares Krebsmedikament, gebunden. Das ist wie eine Art Mitfahrgelegenheit: „Das Ziel von Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten ist es, die Spezifität der Antikörper zu nutzen und einen chemischen Wirkstoff direkt und präzise zum erkrankten Gewebe zu transportieren und damit eine Schädigung von gesundem Gewebe zu vermeiden“, erklärt Salfeld.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Oft sind komplexe Krankheiten jedoch von vielen verschiedenen Faktoren angetrieben – und laufen nicht nur über einen einzigen Signalweg. Forscher kamen daher auf die Idee, bispezifische Antikörper zu entwickeln. Sie setzen sich aus zwei unterschiedlichen Bestandteilen zusammen, sodass sie an zwei Targets gleichzeitig binden können. Zu ihnen gehört auch die neuartige Gruppe der „BiTEs“ (Bi-specific T-cell Engagers). Ein BiTE besitzt zwei „Arme“: Der eine dockt an ein Oberflächenprotein der T-Zellen des Immunsystems an, der andere ist auf ein Antigen auf z.B. einer Tumorzelle ausgerichtet. Der BiTE-Antikörper fungiert als Verbindung – und aktiviert dadurch die T-Zellen. Durch die Produktion zytotoxischer Stoffe wird die Tumorzelle schließlich zerstört. Der erste Vertreter dieser Wirkstoffklasse wurde von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA 2015 gegen eine bestimmte Form der Leukämie zugelassen.

Derart hoch technisierte Moleküle herzustellen ist eine große Herausforderung. „Wenn du mit solch neuartigen Mechanismen arbeitest, versuchst du Zellen davon zu überzeugen, Dinge zu tun, die sie wirklich nicht machen wollen“, so Tagari. „Es ist die eine Sache, einen gewöhnlichen Antikörper zu entwickeln. Eine ganz andere Sache ist es, ein äußerst technisiertes Hybridmolekül zu entwerfen und eine Zelle dazu zu bringen, es zu produzieren […].“ Bevor ein so entstandenes Medikament zu den Patienten gelangt, sind daher umfangreiche Tests, Experimente und Studien notwendig.

Molekül-Bibliotheken

Immerhin erlauben es automatisierte Verfahren inzwischen, dass nicht mehr jedes dieser Moleküle einzeln entworfen werden muss. „So können wir heute Hunderte dieser Moleküle erstellen und daraus Bibliotheken aufbauen“, so Salfeld. Diese könnten dann auf die für eine Erkrankung erforderliche Molekülfunktion durchforstet werden. Das Ziel: noch individuellere Therapielösungen, noch zielgerichtetere, wirksamere Medikamente. „Sie könnten gegen bestimmte Krebserkrankungen eingesetzt werden oder gegen Alzheimer. Sie könnten auch bei der Behandlung von Multiple-Sklerose-Patienten helfen.“

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