Ein System, dass Ärztinnen und Ärzten Informationen über den Zusatznutzen neu zugelassener Medikamente gut aufbereitet zur Verfügung stellt? Dagegen hat keiner was – die Ärzteschaft nicht und die pharmazeutische Industrie auch nicht. Aber über die mögliche Umsetzung gibt es Streit. Denn die Frage ist, welche Aussagen aus der frühen Nutzenbewertung überhaupt für eine konkrete Therapieentscheidung taugen: Stellt ein Gremien-Beschluss über den (Zusatz-)Nutzen eines Arzneimittels wirklich ein allgemeingültiges Urteil über den Einsatz eines Medikamentes für den Praxisalltag dar? Das bezweifelt nicht nur die pharmazeutische Industrie. Das bezweifelt auch die Ärzteschaft.
Dabei werden dem AIS wahre Wunder zugetraut. Mit einem Blick, so hieß es dazu vor kurzem in einer Berliner Tageszeitung, könnten Ärzte dann sehen, „was die Marketing-Versprechen der Unternehmen tatsächlich wert sind“. Kein Wunder also, dass die Pharmaindustrie das Vorhaben bekämpfe.
Ärzte sollten tragende Rolle spielen, findet die Industrie
Die Aussage ist aus zwei Gründen korrekturbedürftig: Erstens bekämpft die Industrie das Projekt nicht. Beim stellvertretenden Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes BPI klingt das z.B. so: „Ärzten die Informationen über den Zusatznutzen neuer Arzneimittel strukturiert und übersichtlich im Rahmen ihrer Praxissoftware zugänglich zu machen, ist sinnvoll. Wir unterstützen das.“ Zweitens bilden die sogenannten AMNOG-Beschlüsse nur eine therapeutische Teilwelt ab. Sie sagen meist mehr über die Methodik der Verfahren aus als über den wirklichen therapeutischen Nutzen. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen (vfa) fordert deshalb, dass die Ärzte eine tragende Rolle in der Ausgestaltung des AIS haben sollten: „Sie müssen entscheiden, wie die bestehenden Widersprüche zwischen Zusatznutzenbewertung und Therapieerfordernissen aufgelöst werden, ohne dass die Versorgung der Patienten darunter leidet.“
Der Grund für die Diskussion dürfte in einem Missverständnis liegen, was die frühe Nutzenbewertung zu leisten vermag und was nicht. Dr. Jürgen Bausch, Kinder- und Allgemeinarzt sowie Ehrenvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen, erläutert das: „Das AMNOG wurde etabliert, um die Krankenkassen in die Lage zu versetzen, mit den Pharmaunternehmen entsprechende Preise auszuhandeln.“ Das Motto: Ist der Zusatznutzen hoch, darf auch der Preis entsprechend sein – und umgekehrt. Daraus apodiktisch ein bestimmtes Verschreibungsverhalten der Ärzte abzuleiten, geht aus seiner Sicht nicht. „Die frühe Nutzenbewertung ist immer eine Momentaufnahme.“ Deshalb sagt auch er: „Gegen Informationen haben wir Ärzte nichts“. Entscheidend sei aber die Ausgestaltung des Arztinformationssystems: „Eine Steuerung ärztlicher Verordnungen durch das AIS werden wir nicht akzeptieren“, stellt Bausch klar.
Was wie eine Fachdiskussion aus dem Dschungel des Gesundheitswesens klingt, kann für Patienten und ihre Versorgung mit Medikamenten negative Folgen haben. Deshalb warnen auch sieben Organisationen – darunter die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Bundesärztekammer und die Patientenvertretung BAG Selbsthilfe – in einer gemeinsamen Erklärung: „Die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung des G-BA sind nicht 1:1 in ein AIS übertragbar. In der Regel basiert die frühe Nutzenbewertung auf einer, seltener auf mehreren klinischen Studien mit einer selektierten Studienpopulation, die im Versorgungsalltag so nicht immer anzutreffen ist.“ Fehlen aber Studien zu bestimmten Patientengruppen, führt das in der AMNOG-Logik dazu, dass ein Zusatznutzen nicht nur nicht belegt ist. Es wird auch gerne so getan, als ob es ihn gar nicht gibt. Das kann zwar stimmen, muss es aber nicht.
Ärzte fürchten, sich vor den Kassen rechtfertigen zu müssen
Das liegt daran, dass in den meisten Fällen von „Zusatznutzen nicht belegt“ die Entscheidung nicht auf Basis von Daten, sondern von fehlenden Daten fällt. Denn es ist schlicht nicht möglich, für jede Patientenpopulation klinische Studien durchzuführen. Bausch: „Um es salopp auszudrücken: Wenn ein Medikament in einer Studie bewiesen hat, dass es in der untersuchten Gruppe der katholischen Landfrauen wirkt, gehe ich davon aus, dass es das auch bei den evangelischen Landfrauen tut – selbst, wenn es dazu keine Studie gibt. Einen solchen Evidenztransfer mache ich als Arzt jeden Tag.“ Die Ärzteschaft fürchtet aber, dass sie sich bei Verordnungen, die im AMNOG nicht gut abgeschnitten haben, vor den Krankenkassen dafür rechtfertigen muss, warum sie ein solches Medikament – um im Bild zu bleiben – einer evangelischen Landfrau verordnet hat. Die damit verbundene Bürokratie fürchten sie fast noch mehr als einen drohenden Regress, sagt Bausch. Bei einem Regress müssten sie für eine solche Verordnung finanziell haften.
„Formal korrekt: keine Studie, kein Nachweis des Zusatznutzens“, stellt Kinderarzt Bausch fest. „Inhaltlich ist das aber fraglich, wenn unterstellt wird, dass aus dem Fehlen einer Studie ein fehlender Nutzen abgeleitet wird.“ Das sehen auch die Unterzeichner der o.g. Erklärung so: Zusatznutzen nicht anerkannt? „Dies kann […] nicht mit fehlendem Nutzen gleichgesetzt werden. Patienten benötigen zum Beispiel auch bei Unverträglichkeit oder Versagen des Therapiestandards Alternativen von zugelassenen Wirkstoffen, selbst wenn für diese in der einen oder anderen Subgruppe ein Zusatznutzen nicht oder noch nicht belegt ist.“
Information oder „kassengesteuerte Verordnungskontrolle“?
Ob amtlich bescheinigter Zusatznutzen oder nicht: Jedes Medikament, das das AMNOG-Verfahren durchlaufen hat, ist ein für eine bestimmte Indikation zugelassenes Medikament. Es hat seinen Nutzen unter Beweis gestellt – und kann im Alltag von Patient und Arzt eine wertvolle Therapieoption sein. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass oft genug AMNOG-Beschlüsse von anderen Informationsquellen des Arztes (wie etwa die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften) deutlich abweichen.
Bei der Diskussion über das AIS ist das das ganze Dilemma: Ein Medikament mit Nutzen aber vermeintlich fehlendem Zusatznutzen ist aus der Sicht der Kassen unwirtschaftlich und sollte möglichst nicht verordnet werden. Für den Arzt kann genau dieses Medikament im konkreten Fall die Lösung des Patientenproblems sein. Deshalb pocht die Ärzteschaft so auf die Therapiefreiheit. Gemeint ist die Freiheit zu entscheiden, was ihrer Meinung nach – auf Basis ihres Wissens und ihrer Erfahrungen – für den Patienten das Beste ist. Medikamente, die vermeintlich keinen Zusatznutzen haben, sind für die Versorgung von Patienten unverzichtbar. Hätten sie keinen Nutzen, wären sie nicht zugelassen worden.
Der Arzt ist nicht zu beneiden: Er muss die Widersprüche von der Nutzenbewertung des AMNOG mit den Therapiebedürfnissen seiner Patienten in Einklang bringen. Auf der Suche nach der patientenindividuellen medikamentösen Lösung des Problems können die Informationen, die die frühe Nutzenbewertung zur Verfügung stellt, Hilfe und Unterstützung sein. Sie müssen es aber nicht. Die Sorge der Ärzteschaft ist, dass „aus ´Information`“ des AIS eine „kassengesteuerte Verordnungskontrolle” wird. Dann steht nicht der Patient im Vordergrund, sondern das liebe Geld.