Jeder Mensch ist einzigartig – genetisch betrachtet unterscheiden wir uns voneinander wesentlich stärker als gemeinhin angenommen. Die Präzisionsonkologie trägt dem Rechnung. Ihr Ziel: Jedem Krebspatienten anhand einer umfassenden molekularen, zellulären und funktionellen Analyse seines Tumors eine individualisierte Behandlung anzubieten. „Wir wissen heute, dass sich die biologischen Eigenschaften nicht nur von Krebserkrankung zu Krebserkrankung, sondern auch von Patient zu Patient erheblich unterscheiden“, schreibt das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg (NCT) auf seiner Webseite. Was man heute auch weiß: Jeder Tumor weist unabhängig von seiner Art und Lage individuelle Treiber auf, die ihn wachsen lassen. Die molekulare Diagnostik macht diese Vorgänge nachweisbar. Dies kann in einigen Fällen im Rahmen der Therapie ein präzises Vorgehen ermöglichen. Die Voraussetzung: eine umfassende molekulargenetische Testung.
Ein erster Vertreter so genannter tumoragnostischer Wirkstoffe wurde gerade erst zugelassen, weitere sind in der Entwicklung. Diese Substanzen scheren sich nicht darum, ob es ein Brustkrebs oder ein Leberkrebs ist. Sie adressieren Signalwege – und kündigen damit den bisher bestehenden Konsens auf, dass der Ort des Tumors diesen am stärksten charakterisiert. Hinter den präzisionsonkologischen Wirkstoffen verbirgt sich die Chance, dass sie eine höhere Wirksamkeit entfalten können – bei weniger Nebenwirkungen. Ein Beispiel dafür sind so genannte Tropomyosin-Rezeptor-Kinase-(TRK-)Fusionstumore. Sie treten in unterschiedlicher Häufung bei verschiedenen Krebsarten auf, wie z. B. bei Formen von Dickdarm- oder Brustkrebs.
Welchen Unterschied sehen Sie zwischen zielgerichteten Therapien und der Präzisionsonkologie?
Prof. Seufferlein: Zielgerichtete Therapien haben als Ansatzpunkt molekular definierte Targets, z.B. Signalübertragungswege oder bestimmte Eiweiße. Bei der Präzisionsonkologie adressiert man dagegen einen bestimmten Signalweg bei einem bestimmten Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt. Damit ist die Präzisionsonkologie der nächste Schritt zu einer individualisierten Therapie. Die Basis dafür liefert die Analyse genetischer und epigenetischer Veränderungen, aber auch von Veränderungen von Proteom und Metabolom. Aktuell liegt der Schwerpunkt der Diagnostik in der Identifikation genetischer Veränderungen.
Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der Präzisionsonkologie?
Prof. Seufferlein: Ziel ist eine deutlich höhere Wirksamkeit bei deutlich weniger Nebenwirkungen, also eine maßgeschneiderte Behandlung für den individuellen Patienten, bei dem ein bestimmter onkogener Treiber nachgewiesen ist. Dies wäre dann das Optimum für unsere Patienten. Wenn das gelingt, bin ich auch als Behandler sehr zufrieden.
Welcher Stellenwert kommt dabei der molekularen Diagnostik zu?
Prof. Seufferlein: Die molekulare Diagnostik spielt eine zentrale Rolle und wird in ihrer Bedeutung weiter zunehmen. Wir brauchen die molekulare Diagnostik, um zu ermessen, welche Therapie wir im Einzelfall einsetzen sollen. Derzeit erhalten wir aus der Analytik des Tumorgewebes oder aus Metastasen die wesentlichen Informationen. In Zukunft wird vermutlich vermehrt auch eine Blut-basierte Diagnostik bei Tumorerkrankungen zur Anwendung kommen.
Bei welchen Tumorpatienten sollten Onkologen Ihrer Meinung nach eine molekulare Diagnostik anstoßen?
Prof. Seufferlein: Das sind mehr Patienten, als man denkt.
So sollten z. B. Patienten in einem fortgeschrittenen Tumorstadium mit gutem Allgemeinzustand, für die keine weitere etablierte Therapieoption zur Verfügung steht, von einem molekularen Tumorboard begutachtet werden. Ziel ist es, unabhängig von der Tumorentität, zu prüfen, ob eine molekulare Tumorcharakterisierung im Einzelfall neue Therapieoptionen eröffnet. Selbst bei Tumorerkrankungen, die wir als schwer behandelbar einschätzen, wie z. B. dem Bauchspeicheldrüsenkrebs, gibt es kleine Subgruppen, die maximal profitieren können. Diese Patienten können wir mit der molekularen Diagnostik identifizieren. Wichtig ist es, mit den Patienten zu besprechen, dass die Chancen, eine entsprechende Veränderung zu finden, nicht sehr hoch sind. Wenn sich aber eine genetische Veränderung feststellen lässt, kann der Patient von einer bestimmten Therapie z. T. deutlich profitieren.
Welche Voraussetzungen müssen in Deutschland geschaffen werden, damit die molekulare Diagnostik und präzisionsonkologische Therapien im Klinik- und Praxisalltag ankommen?
Prof. Seufferlein: Wichtig ist, dass die Diagnose-Ergebnisse vergleichbar sind. Voraussetzung dafür sind u.a. eine Standardisierung und eine Qualitätssicherung von molekularer Diagnostik- und Auswertungs-Algorithmen. Beispielsweise wurden in Baden-Württemberg an den Universitätsklinika Zentren für personalisierte Medizin aufgebaut. Von diesem Konzept können und sollen auch alle Behandler und Patienten im Umkreis der Universitätsklinika profitieren.
Wie können Ihrer Meinung nach eventuelle Hürden für den routinemäßigen Einsatz der molekularen Diagnostik und der präzisionsonkologischen Therapie überwunden werden?
Prof. Seufferlein: Zu klären ist noch die Erstattung der molekularen Diagnostik über die Gesetzliche Krankenversicherung. Darüber hinaus ist es wichtig, ärztliche Kollegen und Patienten sowie ihre Angehörigen über die Möglichkeiten der Diagnostik und personalisierter Medizin regelmäßig zu informieren.
Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit TRK-Fusionstumoren?
Prof. Seufferlein: Das Thema ist ja noch relativ neu, gewinnt aber gerade an Relevanz, da neue, spezifisch wirksame Substanzen entwickelt werden. Wir haben zwei Bereiche, in denen Fusionen eine Rolle spielen, das eine sind NTRK (Neurotrophe Tyrosin-Rezeptor Kinase)-Fusionen, das andere sind NRG (Neureguline)-Fusionen. Nun geht es darum, die Patienten zu identifizieren, deren Tumoren die entsprechenden Merkmale tragen. Einerseits möchten wir eine Überdiagnostik vermeiden, andererseits möchten wir Patienten nicht übersehen, die davon massiv profitieren können.
Was ist Ihre persönliche Vision bezüglich der Diagnostik und Therapie von Tumorerkrankungen?
Prof. Seufferlein: Die molekulare Diagnostik wird in Zukunft wesentlich häufiger und früher im Therapieablauf eingesetzt werden. Die reine Chemotherapie wird mehr und mehr in den Hintergrund treten und bei bestimmten Tumoren nur dann zum Einsatz kommen, wenn keine Optionen für eine zielgerichtete und „präzisionsonkologische“ bzw. personalisierte Therapie bestehen. Bei bestimmten Tumorentitäten, wie z.B. dem NSCLC testen wir bereits jetzt schon vor der First-Line-Therapie molekular.
In fünf Jahren werden wir das bei vielen weiteren Entitäten tun. Nur die Patienten, bei denen keine adressierbaren Zielstrukturen identifiziert werden können, werden dann noch ausschließlich eine Chemotherapie erhalten. Bei zahlreichen Tumorerkrankungen sind wir schon auf einem guten Weg. Die Überlebenszeiten werden erfreulicherweise länger, wie z. B. beim Bronchialkarzinom, beim Kolonkarzinom und beim Melanom.
Daraus ergeben sich aber auch neue Herausforderungen. Patienten, die über einen längeren Zeitraum behandelt werden, benötigen mehr Unterstützung in unterschiedlichen Bereichen, z. B. Ernährung, körperlicher Bewegung, psychoonkologischer Begleitung oder bei ihrer beruflichen Tätigkeit oder Wiedereingliederung. Ziel muss es sein, eine „Chronifizierung“ der Krebserkrankung bei guter Lebensqualität zu erreichen.
*Das Interview wurde von Bayer Vital zur Verfügung gestellt. Leicht gekürzte Version.
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