Herr Prof. Martin, was können Typ-2-Diabetiker tun, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen, vielleicht sogar zu heilen?
Prof. Martin: Der wichtigste Punkt ist eine Ernährungsumstellung: Wenig Kohlenhydrate, also eine sogenannte Low-Carb-Ernährung. Das ist die Basis. In meiner Arbeit mit Diabetes-Patienten starte ich mit einer Formula-Diät, zu der ich gemeinsam mit einer Kollegin auch ein Buch geschrieben habe: „Das neue Diabetes Programm“, erschienen im Trias Verlag. Die Patienten ernähren sich in der ersten Woche nur von Eiweiß-Shakes. In den Wochen zwei bis vier bekommen sie eine normale Mahlzeit und zwei Formula-Diäten, danach ersetzen sie für weitere acht Wochen noch die abendliche Mahlzeit durch den Eiweiß-Shake. Anschließend essen sie wieder ganz normal, aber nach den Low Carb Prinzipien.
Was heißt das konkret?
Prof. Martin: Nun, die Patienten messen ja regelmäßig ihren Blutzucker. Dabei sehen sie: Wenn sie Brot essen, Kartoffeln, Reis, Pasta, dann steigen die Blutzuckerwerte an. Es ist nicht alleine der Zucker, sondern es sind die Kohlenhydrate generell – Kartoffelpüree hat einen höheren glykämischen Index als Haushaltszucker.
Stattdessen ist es wichtig viel Gemüse und Salat zu essen, außerdem eiweißhaltige Lebensmittel wie Tofu und Hülsenfrüchte. Gute tierische Eiweißlieferanten sind Eier, Käse, Fisch und Fleisch in Maßen. Durch die Ernährungsumstellung verlieren die Patienten 10 oder 20 Kilogramm an Gewicht, manche auch deutlich mehr – und das ohne zu leiden. Bei uns in der Praxis und in bundesweiten Studien haben wir Erfahrungen mit über tausend Patienten gesammelt, es ist unglaublich, was man da erreichen kann. Viele kommen schon nach kurzer Zeit komplett oder zumindest teilweise ohne Medikamente aus. Typ-2-Diabetes ist kein Schicksal, das jemand tatenlos erdulden muss, sondern ein Weckruf, um aktiv zu werden.
Aber nicht alle Menschen können oder wollen diesen Weckruf hören.
Prof. Martin: Ich würde sagen, ein Drittel schafft das. Einmal Diabetes, immer Diabetes, das stimmt einfach nicht. Ich treffe immer wieder Hausärzte, die mir erzählen: „Ich hatte da einen, der hatte Diabetes, dann hat er abgenommen, jetzt hat er keinen Diabetes mehr.“ Das passiert häufiger als wir denken. Wer es schafft, dauerhaft 10 oder 15 Kilo abzunehmen, der hat auch eine gute Chance, seinen Diabetes in den Griff zu bekommen.
Und was ist mit Menschen, bei denen der Blutzucker nicht auf Anhieb sinkt?
Prof. Martin: Das könnte ein Hinweis auf einen Typ-1-Diabetes sein. In diesem Fall empfiehlt sich eine Behandlung mit Insulin. Wir haben eine extrem gute Behandlung bei Typ-1-Diabetes mit Insulin, da ist Deutschland sicherlich führend.
Empfehlen Sie Insulin auch für die Behandlung von Typ-2-Diabetes?
Prof. Martin: Da sollte man zumindest vorsichtig sein. Nach neuesten Daten erhalten in Deutschland 24 Prozent der Patienten mit Typ-2-Diabetes Insulin, ohne dass sie vorher irgendetwas anderes bekommen hätten. Und im Vergleich zu anderen Ländern bekommen Typ-2-Diabetiker in Deutschland deutlich mehr Insulin – pro Kopf der Bevölkerung ungefähr doppelt so viel wie in Frankreich.
Weshalb sehen Sie das kritisch?
Prof. Martin: Zum einen profitieren in erster Linie die Krankenkassen: Sie bekommen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs 2.249 Euro für jeden Patienten mit einer Insulin-Therapie. Grundsätzlich ist dieser Ausgleich eine gute Sache, denn dadurch werden chronisch Kranke von den Krankenkassen nicht mehr als Risikoversicherte betrachtet. Es kann aber auch zu Fehlanreizen kommen. Das ist bei der Insulintherapie für Typ-2-Diabetiker der Fall, zumindest wenn sie zu schnell und in zu hoher Dosierung erfolgt.
Und zum anderen?
Prof. Martin: Zum anderen hat Insulin nicht nur eine blutzuckersenkende Wirkung, sondern blockiert auch die Fettverbrennung. Je mehr Insulin ich bekomme, umso dicker werde ich – mit all den schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit. Das ist meiner Meinung nach ein Weg, den man zumindest mit Fragezeichen versehen muss.
Wieso? Sie sagen doch selbst, dass die Insulintherapie bei Typ-1-Diabetes sehr gut wirkt.
Prof. Martin: Ja, allerdings unterscheiden sich Typ-1- und Typ-2-Diabetes maßgeblich. Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, bei der in der Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produziert wird, weil die dafür zuständigen Zellen zerstört sind. Bei Typ 2 produziert die Bauchspeicheldrüse noch Insulin. Aber durch Übergewicht und Bewegungsmangel kommt es zu einer Insulinresistenz: Die Körperzellen stumpfen gegenüber dem Insulinsignal ab und nehmen keinen Zucker mehr auf.
Das Problem ist also kein Insulinmangel, sondern die Insulinresistenz. Eine solche Resistenz kann wieder verschwinden, wenn ich mich gesund ernähre und dabei die Zufuhr an Kohlenhydraten deutlich einschränke – am besten in Verbindung mit Bewegung.
Aber was, wenn das alles nichts hilft oder mir die nötige Disziplin fehlt?
Prof. Martin: Patienten, bei denen die Ernährungsumstellung alleine nicht ausreicht, geben wir Medikamente. Metformin ist die Basistherapie. Daneben geben wir auch Medikamente, die die Gewichtsabnahme unterstützen. Dazu zählen SGLT-2-Hemmer, die die Glukoseausscheidung über die Nieren fördern, und GLP1-Analoga, die unter anderem den Appetit zügeln.
Welche Vorteile bieten diese beiden Medikamentenklassen?
Prof. Martin: Es gibt aussagekräftige Studien, die belegen: Diese Substanzen haben nicht nur eine blutzuckersenkende Wirkung, sondern auch schützende Effekte für Herz und Niere – und sie senken das Gewicht bei den Patienten. Insofern ist das eine ideale Kombination mit der Lebensstiländerung. Aber, und das ist ganz wichtig: Wenn jemand glaubt, dass er ausschließlich mit Medikamenten seinen Diabetes in den Griff bekommt, dann irrt er. Denn das Grundproblem bei Typ-2-Diabetes ist Übergewicht. Das muss angegangen werden.