Die Lebenserwartung steigt und steigt – diese Aussage bestätigte sich über viele Jahrzehnte hinweg, unabhängig davon, ob man die zu erwartende Lebensdauer bei der Geburt zugrunde legte, die noch verbleibenden Jahre in einem bestimmten Alter oder den Zeitpunkt, zu dem die Sterbewahrscheinlichkeit am höchsten ist.
Letzterer steht jetzt bei 85 Jahren, das heißt, die meisten Menschen in Deutschland sterben mit 85 – in den Jahren davor und danach ist die Anzahl der absoluten Todesfälle niedriger. Prof. Reinhard Busse, der an der Technischen Universität Berlin den Lehrstuhl für Management im Gesundheitswesen innehat, wartete in seinem Vortrag zum Thema „Die Lebenserwartung steigt – aber für alle?“ noch mit weiteren Zahlenspielereien auf, die richtig gut klingen: So werden 80-Jährige mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent auch ihren 81. Geburtstag noch erleben, bei den 90-Jährigen sind es immerhin noch 85 Prozent, die auch das 91. Lebensjahr vollenden. Die wahrscheinliche Lebensdauer in Deutschland liegt bei 81,3 Jahren für Männer, bei 86 Jahren für Frauen. So weit, so gut.
Das schöne Bild trübt sich allerdings ein, wenn man die neuesten Zahlen zur Lebenserwartung bei Geburt betrachtet, die Busse ebenfalls präsentierte: „Die Kurve zur Lebenserwartung ist stark abgeflacht, wir gewinnen pro Jahr nur noch einen Monat hinzu – zuvor waren es seit Ende des Zweiten Weltkrieges rund 3,5 Monate pro Jahr.“ Will heißen: In Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Kanada steigt die Lebenserwartung nur noch unwesentlich an, in den USA ist sie sogar rückläufig. Lediglich einzelne Länder wie Dänemark oder Norwegen verzeichnen in Europa noch einen deutlichen Anstieg der Lebenserwartung.
In Deutschland steigt, in Norwegen sinkt die Zahl der Krebstoten
Doch woran liegt das: „An der hohen Krebsinzidenz oder am schlechten Gesundheitssystem?“ fragte Busse und lieferte auch gleich die Antwort: „Am Krebs liegt es nicht.“ Um diese Aussage zu untermauern, präsentierte Busse Statistiken zur Krankheitslast durch Krebs. So starben im Jahr 1990 rund 23,5 Prozent der Menschen in Deutschland an Krebs, im Jahr 2017 waren es bereits 26,7 Prozent – also mehr als jeder vierte. Dieser Anstieg hat allerdings vor allem damit zu tun, dass Krebs eine Krankheit ist, die mit zunehmendem Alter immer häufiger auftritt – je mehr ältere Menschen es gibt, desto mehr sterben an Krebs. So lag die Zahl der Krebstoten im Jahr 2017 in Deutschland um 13 Prozent höher als 1990. In den Niederlanden, wo sich nach Busses Aussage „in den letzten 15 Jahren eine regelrechte Krebsepidemie entwickelt hat“, waren es sogar 24 Prozent. In Norwegen dagegen sank die Zahl der Krebstoten im gleichen Zeitraum um acht Prozent, in der Schweiz um ein Prozent – obwohl auch dort immer mehr ältere Menschen leben. „Auch in Norwegen gibt es immer mehr Krebsfälle“, so Busse, „aber es sterben weniger Menschen als bei uns daran.“ Und das, obwohl ein durchschnittlicher Krebspatient in Deutschland vier Krankenhausaufenthalte absolviert, während der europäische Durchschnitt bei zwei Klinikaufnahmen liegt.
Entscheidend ist nach Busses Überzeugung aber nicht die Zahl der Klinikaufenthalte, sondern die Qualität der ärztlichen Behandlung: „Es werden zu wenige Patienten in spezialisierten Krebszentren behandelt.“ Nur 16 Prozent der Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs suchen ein solches Zentrum auf, bei Brustkrebs sind es 75 Prozent. „Dabei liegt die Sterblichkeit in spezialisierten Zentren deutlich niedriger“, sagte Busse und zog am Ende das Fazit: „Wir haben in Deutschland ein Versorgungsproblem, das damit zusammenhängt, dass zu viele Krebspatienten in Wald- und Wiesenkliniken behandelt werden.“ Diesen Standpunkt hatte er tags zuvor auch in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ vertreten – woraufhin ihn das Online-Portal der Bild-Zeitung als „eiskalten Manager“ und „Räumbagger“ von ländlichen Krankenhäusern abkanzelte.
Bessere Prognose dank „Tumorboard“
Prof. Bernhard Wörmann, Leiter der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie an der Berliner Charité, bestätigte in seinem Vortrag, dass Krebs zunehmend zu einer chronischen Erkrankung wird, deren Behandlungsmöglichkeiten immer zahlreicher und besser werden: „Seit 2011 haben 140 Onkologika ein abgeschlossenes Verfahren in der frühen Nutzenbewertung durchlaufen – sie sind damit die mit Abstand größte Gruppe an neuen Medikamenten.“ Neue Behandlungsmöglichkeiten gebe es für die meisten Krebsformen, „nur leider nicht bei Pankreas und Hirntumoren.“ Bis vor wenigen Jahren habe es ein einfaches Schema für fast alle Krebspatienten gegeben: „Stahl, Strahl, Chemo“ – also Operation, Bestrahlung, Chemotherapie. Inzwischen gibt es zahllose neue Behandlungsformen, die individuell auf die Patienten zugeschnitten werden können – je nach Tumorstadium, Allgemeinzustand, Vormedikation, genetischen Faktoren und, und, und. Wörmann betonte, wie wichtig Erfahrung, Spezialisierung und fachlicher Austausch der behandelnden Ärzte sind. So gibt es an der Charité ein „Tumorboard“, in dem die Mediziner einzelne Fälle besprechen. „Patienten, die dort vorgestellt werden, haben eine deutlich bessere Prognose“, so Wörmann.
Bei der anschließenden Diskussion erklärte die bayerische SPD-Gesundheitspolitikerin Ruth Waldmann unter Zustimmung aller Beteiligten: „Die Zukunft der Krebsversorgung liegt in der Kooperation und damit auch im Datenaustausch. Spezialisierte Zentren sind wesentlich“ – sie sollten allerdings die behandelnden Ärzte vor Ort unterstützen anstatt sie zu verdrängen. Fabian Demmelhuber von der Kassenärztlichen Vereinigung beklagte, dass „wir keine flächendeckenden Lösungen für Vernetzung haben“. Auch die elektronische Patientenakte, die 2021 endlich kommen soll, sei „nicht die Lösung für alle Probleme – wir brauchen zusätzlich ein Instrument, dass es Ärzten ermöglicht, sich digital auszutauschen.“ Als positives Beispiel nannte er eine onkologische Schwerpunktpraxis in Landshut, die einen solchen Austausch mit Onkologen am Klinikum Großhadern in München pflegt.
Sophie Schwab, Leiterin der bayerischen DAK-Landesvertretung, plädierte dafür, „dass solche Leuchtturm-Projekte in die Regelversorgung kommen.“ Zudem sollte das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz AMNOG von einem „nutzenbasierten Instrument zu einem wissensbasierten Instrument weiterentwickelt werden – wir brauchen Zentren und Netzwerke drumherum.“
Wie wichtig ist Prävention?
Von einem Arzt unter den Zuschauern kam der Hinweis, dass 23 Prozent aller Krebserkrankungen durch Prävention verhindert werden könnten. Für die DAK in Bayern ist das aber offensichtlich kein wichtiges Thema: „Ja ja, es gibt die üblichen Verdächtigen, bei denen wir präventiv tätig werden: Rauchen, Ernährung, Bewegung, Alkohol“, meinte Sophie Schwab dazu. Auf die Idee, dass eine Krankenkasse sich auch für Prävention durch Impfungen einsetzen könnte, kam sie nicht – auch wenn erwiesen ist, dass zum Beispiel die HPV-Impfung vor Gebärmutterhalskrebs schützen kann oder eine Hepatitis-Impfung vor Leberkrebs als Spätfolge. Bernhard Wörmann wies in diesem Zusammenhang auch auf die Verantwortung der Patienten hin: „Jeder 6. Krebspatient ist ein Wiederholungstäter.“
Was er damit meint: Es gibt zum Beispiel Raucher mit Krebs im Mund- und Speiseröhrenbereich, die auch nach erfolgreicher Behandlung weiterrauchen – und die Wörmann später als Lungenkrebs-Patienten wiedersieht.
Zusammengefasst: Damit die Lebenserwartung auch in Zukunft steigen kann, ist es notwendig, spezialisierte Krebszentren zu fördern – und ebenso die digital vernetzte Zusammenarbeit von Medizinern.
Veranstalter von „Die Lebenserwartung steigt – aber für alle?“ war die WISO S.E. Consulting GmbH in Kooperation mit Health Care Bayern e.V.
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