Wie gut sprechen Patienten tatsächlich auf ein Arzneimittel an? Welche Bedeutung nimmt die Therapietreue ein? Und inwiefern haben bestimmte Gesetze Einfluss auf die medizinische Versorgung? Es ist ein breites Spektrum an Fragen, mit denen sich die Versorgungsforschung beschäftigt. Ihr Ziel: Erkenntnislücken schließen, Defizite identifizieren und beheben. Über Routinedaten von Krankenhäusern und Krankenkassen erkennt sie etwa, wenn Diabetiker in einer Region nicht ausreichend versorgt werden – Voraussetzung, um die Lage verbessern zu können.
Auch für Arzneimittelhersteller birgt der Blick in die Praxis-Realität einen enormen Datenschatz:

Zwar ist eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) der Goldstandard in der Forschung, wenn es darum geht, Wirksamkeit und Sicherheit einer neuen Therapie zu belegen; schließlich findet sie in einem streng kontrollierten Umfeld statt. Sie gibt dadurch aber auch eine Art „Kunstwelt“ wieder, die die Komplexität im Behandlungsalltag nur bedingt darstellen kann. Über Versorgungsdaten erhalten Forscher einen Einblick in ein sehr viel größeres, heterogeneres Patientenkollektiv: So hat der eine Patient z.B. keine Begleiterkrankung; ein anderer hat gleich mehrere und nimmt viele zusätzliche Medikamente ein. Zudem haben Versorgungsdaten das Potenzial, Informationen zu Therapien zu generieren, wenn nur begrenzt Daten aus klinischen Studien zur Verfügung stehen.
Deutschland nutzt diese Chancen noch zu wenig, erklärt Dr. Frank Wartenberg, President Central Europe beim Beratungsunternehmen IQVIA, im Interview.
Herr Dr. Wartenberg, ist die Versorgungsforschung in anderen Ländern weiter als in Deutschland?
Dr. Frank Wartenberg: Die Frage, ob die Versorgungsforschung in anderen Ländern weiter ist als in Deutschland, kann man mit einem eindeutigen Ja beantworten. Wir haben vor einigen Jahren für über 20 Länder untersucht, inwieweit dort Versorgungsdaten erhoben werden und tatsächlich auch für Entscheidungen im Gesundheitswesen genutzt werden. Deutschland landete zusammen mit Spanien auf den letzten Plätzen. Führende Länder waren die USA, die nordischen Länder, aber auch UK, die dort wesentlich mehr machen. Das ist bei uns im System bislang nicht richtig vorgesehen.

Woran liegt das?
Wartenberg: Es liegt daran, dass zur Beurteilung von Medikamenten im heutigen Beurteilungsprozess vor allem randomisierte klinische Studien herangezogen werden. Versorgungsdaten werden vom Gesetzgeber bzw. dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bisher vernachlässigt.
Kritik an der Situation in Deutschland ist also angebracht?
Wartenberg: Versorgungsforschung ist ein sehr wichtiges Thema, das heute in Deutschland noch unzureichend behandelt wird. Von daher ist Kritik […] sicherlich gerechtfertigt, weil die Chancen, Daten aus der Versorgung zu nutzen, deutlich unterdurchschnittlich wahrgenommen werden.
Ist Besserung in Sicht?
Wartenberg: Als IQVIA sind wir in den letzten Jahren in Bezug auf unsere Überzeugungsarbeit ein Stück vorangekommen. Und im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) ist ja die Nutzung von Versorgungsdaten oder Erhebung von Versorgungsdaten zumindest für seltene Erkrankungen vorgesehen. Ob das, was dann vom IQWiG erarbeitet wird, auch tatsächlich umsetzbar ist, bleibt abzuwarten.