Von einer „neuen Welle an wissenschaftlichen Innovationen“ und einem „noch nie dagewesenen Niveau an Auswahlmöglichkeiten“ bei Krebstherapien ist in dem Bericht „Improving time to patient access to innovative oncology therapies in Europe: Every day counts” die Rede. „Immer mehr wird die Behandlung in der Onkologie auf den individuellen Patienten und die Krankheitsmerkmale zugeschnitten“, heißt es. „Das Immunsystem des Körpers kann aktiviert werden, um den Tumor anzugreifen. Und gen- sowie zellbasierte Therapien bieten die Möglichkeit der Heilung“.
Laut dem Report ist die Zahl der Lungenkrebspatienten, die ein Jahr nach Diagnose noch am Leben sind, heute mehr als zehnmal so hoch als 1995.
Es ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, welche Auswirkungen medizinischer Fortschritt haben kann. Möglich ist das nur, wenn neue Arzneimittel nicht nur entwickelt und europaweit zugelassen werden, sondern sie auf nationaler Ebene auch für alle finanziell zugänglich sind (Stichwort: „Marktzugang“ bzw. Erstattung) und Ärzte sie den Patienten tatsächlich verordnen (Stichwort: „Patientenzugang“). Doch während in Deutschland zum Beispiel 98 Prozent der in Europa zugelassenen Onkologika erstattungsfähig gemacht werden, gilt das in Lettland für nur sieben Prozent.
Deutschland: Nahe an der optimalen Situation
Um Unterschiede in Europa aufzudecken, wurden für den Vintura-Bericht zehn Länder unter die Lupe genommen. So viel vornweg: Keines davon erreicht das optimale Szenario, in dem eine neue Therapie schon kurz nach Zulassung erstattungsfähig ist und verordnet wird.
„Ein Land, das der optimalen Situation sehr nah kommt, ist Deutschland.“ Der Grund: Hier ist die Erstattungsfähigkeit sofort nach Zulassung garantiert. Die Verhandlungen rund um die Preisfindung des Medikaments beginnen parallel. „Das erklärt, warum Deutschland zu den Ländern in Europa mit der kürzesten Zeit bis Marktzugang gehört.“ Allerdings ist die Zahl der Patienten, bei denen nach zwölf Monaten die neue Therapie tatsächlich zum Einsatz kommt, „vergleichsweise niedrig“ (s. Grafik).
Ein Grund könnte sein, dass die jeweilige Therapie noch sehr neu ist, wenn sie verfügbar wird: Die Evidenzlage – von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bis hin zu klinischen Leitlinien – entwickelt sich erst; sowohl Verordner als auch Patienten müssen die Innovation erst kennenlernen. Eventuell sind Ärzte zögerlich, solange die Preis- und Erstattungsverhandlungen laufen. Eine andere Erklärung ist womöglich, dass ein sehr großer Teil der in Europa zugelassenen Onkologika hierzulande erstattungsfähig gemacht wird (98 %). Im Klartext heißt das: In Deutschland gibt es für die Patienten bei innovativen Arzneimitteln mehr Auswahlmöglichkeiten als anderswo – „das führt zu einem geringeren klinischen Einsatz pro einzelne Therapie“.
Niederlande, Polen, Frankreich: Unterschiedliche Herausforderungen
So hat jedes Land mit seinen eigenen systembedingten Herausforderungen zu kämpfen. Die Niederlande z.B. sind laut der Untersuchung das Land, in dem der Patientenzugang im ersten Jahr am niedrigsten ist. Das könnte daran liegen, dass dort mit den einzelnen Krankenhäusern Verträge ausgehandelt werden müssen, bevor eine Therapie verordnet werden kann. Auch dauert es recht lange, bis ein neues Arzneimittel in klinischen Leitlinien aufgenommen ist.
In Polen hapert es an mehreren Stellen: Die Zeit bis Marktzugang (Erstattung) nimmt im Durchschnitt 891 Tage ein; in den zwölf Monaten danach wurden vergleichsweise wenigen Patienten die Innovationen verschrieben.
Die Entscheidungsfindungs-Prozesse sind lang; erstattet werden die neuen Therapien teilweise nur für bestimmte Patienten-Subgruppen – womöglich spielen Kosteneinsparungen eine große Rolle. Im Gegensatz dazu gibt es in Frankreich ein System, das manchen Patienten Zugang zu einem Arzneimittel gewährt, auch wenn die Erstattung noch nicht offiziell geklärt wurde. Dadurch können sich Ärzte und Betroffene schon im Vorfeld mit der Innovation vertraut machen. Ein Jahr, nachdem die Entscheidungen rund um die Erstattung schließlich getroffen wurden, kam sie wohl auch deshalb schon bei relativ vielen Patienten zum Einsatz.
Schnellerer Zugang zu Arzneimittelinnovationen: Lösungsansätze
So unterschiedlich die Herausforderungen der einzelnen Länder auch sind: Vintura konnte in dem Bericht konkrete Faktoren herausarbeiten, die dazu führen, dass Patienten verspätet Zugang zu innovativen Therapien erhalten – und hat Handlungsempfehlungen formuliert. Kurz zusammengefasst geht es darum, die Prozesse bis zum Markt- und Patientenzugang zu beschleunigen und effektiver zu gestalten sowie die Gesundheitsinfrastruktur zu verbessern. „Um die immensen Ungleichheiten beim Patientenzugang in den europäischen Ländern zu reduzieren, müssen wir uns auf ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Perspektive einigen“, heißt es im Report. Ziel ist, dass alle relevanten Stakeholder – Behörden, politische Entscheidungsträger, Kostenträger, Pharmaunternehmen, Angehörige der Gesundheitsberufe und Patientenorganisationen – zusammenarbeiten: Denn für Menschen mit Krebs „zählt jeder Tag“.
Das verdeutlicht folgendes Beispiel: Wäre der Wirkstoff Midostaurin zur Behandlung der akuten myeloischen Leukämie (AML) in Schweden, der Niederlande, England und Italien ohne Verzögerung direkt nach EU-Zulassung erstattungsfähig gemacht worden, hätten 1.689 mehr Patienten die Therapie erhalten. „Insgesamt hätten sie zusätzliche 82.920 Monate leben können“, heißt es in dem Bericht.
Experten hoffen, dass eine sogenannte „Euro-HTA“ das Risiko für verspätete Therapiezugänge in Europa reduziert: Die EU arbeitet daran, die systematische Bewertung medizinischer Verfahren und Technologien (sog. „HTAs“), die momentan noch auf nationaler Ebene stattfindet, zu harmonisieren. „Somit können unterschiedliche Daten- und Evidenzanforderungen innerhalb der EU verhindert werden“, erklärt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). „Hierzu sollen die Mitgliedsstaaten koordiniert zusammenarbeiten, so wie sie es bei dem europäischen Zulassungsverfahren schon heute tun.“ Zum Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Anfang Juli 2020 an, man wolle weiter an einer Euro-HTA arbeiten und darüber verhandeln (s. Ärzte Zeitung).
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