In der Arzneimittelentwicklung bahnt sich eine Revolution an: Mit multispezifischen Molekülen ergeben sich für die Forscher:innen neue Möglichkeiten, um Krankheiten anzugehen, die bisher als nicht behandelbar galten. Foto: ©iStock.com/ismagilov
In der Arzneimittelentwicklung bahnt sich eine Revolution an: Mit multispezifischen Molekülen ergeben sich für die Forscher:innen neue Möglichkeiten, um Krankheiten anzugehen, die bisher als nicht behandelbar galten. Foto: ©iStock.com/ismagilov

Protein-Entsorger: Eine neue Ära der Arzneimittelentwicklung

In der Arzneimittelentwicklung bahnt sich eine Revolution an: Mit multispezifischen Molekülen ergeben sich für die Forscher:innen neue Möglichkeiten, um Krankheiten anzugehen, die bisher als nicht behandelbar galten. Das forschende Biotech-Unternehmen Amgen spricht von einer neuen Ära der Arzneimittelentwicklung. Aus „undruggable“, also mit herkömmlichen Wirkstoffen nicht ansteuerbar, wird „druggable“. Es eröffnen sich schier unendliche Möglichkeiten für neue Therapien.
Dr. Stefan Kropff, Medizinischer Direktor bei der Amgen GmbH. Foto: ©Amgen GmbH
Dr. Stefan Kropff, Medizinischer Direktor bei Amgen. Foto: ©Amgen GmbH

Fast alle Arzneimittel, die wir heute kennen, funktionieren im Grunde nach ein und demselben Prinzip. Sie zielen auf ein einziges Protein ab. Das Molekül, der Wirkstoff des Arzneimittels, bindet an ein Zielmolekül, das Target. Es wird angesteuert, um seine (krankmachende) Aktivität zu verändern. Nach diesem Schlüssel-Schloss-Prinzip lassen sich viele Krankheiten behandeln. Aber es gibt unzählige krankheitsverursachende Proteine, die solche Angriffspunkte nicht bieten oder einfach zu widerstandsfähig sind, um dem Angriff eines einzelnen Arzneimittels zu weichen. Die klassische Medizin kommt an ihre Grenzen. 

Hier kommen die multispezifischen Moleküle ins Spiel; sie können Verbindungen mit zwei oder auch mehr Proteinen eingehen. „Wir glauben, dass die Zukunft den multispezifischen Arzneimitteln gehört“, sagt Dr. Stefan Kropff, Medizinischer Direktor bei der Amgen GmbH.  „Dazu gehören auch solche Strukturen, die als molekulare Vermittler fungieren: Anstatt selbst auf das Zielmolekül einzuwirken, bringen sie das Ziel und solche Moleküle, die die Aktivität dieses Ziels verändern können, in räumliche Nähe zueinander.“ Sie bilden eine Brücke. Multispezifische Moleküle funktionieren nach dem Prinzip der induzierten Nähe. Dr. Kropff ist sich sicher: „Die Nutzung dieses Mechanismus bedeutet eine grundlegende Veränderung in der Arzneimittelentwicklung.“ Denn bislang sind nur etwa 15 Prozent der bekannten Zielproteine mit herkömmlichen Wirkstoffen behandelbar. Alle anderen galten bisher als „undruggable“ – also als durch herkömmliche Wirkstoffe nicht adressierbar.

Neue Moleküle aktivieren den biologischen Reißwolf

Das Prinzip der induzierten Nähe lässt sich in der Natur beim Proteasom, dem Protein-Entsorgungssystem der Zelle, beobachten. Es ist dafür da, Proteine abzubauen, die nicht (mehr) gebraucht werden. Wenn eine Zelle ein unerwünschtes Protein loswerden möchte, setzt sie ein spezielles Enzym ein, die Ubiquitin-Ligase. Dieses Enzym markiert das Zielprotein mit Ubiquitin. Trifft das markierte Protein nun auf ein Proteasom, wird es in dessen Inneres gezogen und in kleine Stücke zerlegt – ein biologischer Reißwolf leistet ganze Arbeit. Das kann man sich vorstellen wie in der Waldbewirtschaftung: Förster:innen markieren kranke Bäume, die gefällt werden müssen; die Waldarbeiter:innen wissen, was sie zu tun haben.

Neue Moleküle aktivieren den biologischen Reißwolf
Multispezifische Moleküle: Weg für neue Behandlungsmöglichkeiten. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Multispezifische Moleküle nutzen und verstärken also kraftvolle biologische Prozesse, die die Natur bereits entwickelt hat. Die Aufgabe der Arzneimittelforschung ist es, diesen natürlichen Prozess auf krankmachende Mechanismen neu zu programmieren, wo die Zellmüllabfuhr bisher nicht funktioniert. Die Multispezifischen sind kleine Helferlein und setzen etwas in Gang, an dem die menschliche Biologie bisher scheitert. Die Idee ist, das zelleigene Protein-Abbausystem für therapeutische Zwecke zu nutzen. 

Diese neue Generation der Multitalente unter den Wirkstoffen macht vor allem 2 Dinge besser als die herkömmlichen:

  • Sie nutzt einen Prozess, der im menschlichen Körper ganz von allein stattfindet. Diese Müllabfuhr ist hocheffizient. Aber sie ist nicht perfekt – nicht alle Proteine, die den Zellen das Leben schwer machen, können adressiert werden. Mit multispezifischen Molekülen lässt sich das ändern.
  • Dabei setzen sie auf intelligentes Teamwork. Herkömmliche Medikamente übernehmen bei der Bekämpfung einer Krankheit die Hauptarbeit. Die Multispezifischen hingegen suchen sich mächtige Verbündete, um ihren Job zu erledigen. Sie wirken als molekulare Vermittler und ebnen den Weg für neue Behandlungsmöglichkeiten gegen zahlreiche Erkrankungen, die bisher nicht oder nicht zufriedenstellend behandelbar sind.

Das Prinzip der molekularen Entsorgung findet Einsatz bei einer neuen Wirkstoffklasse, den PROTACs. Das steht für Proteolysis-Targeting Chimeras. Es sind duale Moleküle, die auf den Abbau von Proteinen, der Proteolyse, spezialisiert sind. Das Prinzip wurde 1999 erstmals in einem Patent beschrieben, aber es war noch viel Forschung nötig, um die großen PROTACs so zu verkleinern, dass sie in die menschliche Zelle eindringen können.

Sie haben mehrere Vorteile:

  • Ihre Wirkung ist durchschlagend, denn die Begegnung mit dem Zielmolekül führt zu seiner Zerstörung. Außerdem können sie nacheinander beliebig viele Targets ausschalten. Herkömmliche Medikamente wirken nur so lange, wie die Wirkstoffe an ihr Target gebunden sind.
  • PROTACs sind nicht auf eine aktive Bindestelle angewiesen, wie das bei herkömmlichen Arzneimitteln der Fall ist. Mit ihren eigenen Enzymen können sie jede beliebige Bindestelle nutzen – was die Möglichkeiten zur Entwicklung neuer Therapien um ein Vielfaches steigert.
  • Da sie sehr gezielt einsetzbar sind, sind kleinere Wirkstoffmengen möglich – und damit ein günstigeres Nebenwirkungsprofil.

„Diese Forschung eröffnet uns Wissenschaftler:innen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten“, sagt Dr. Kropff. „Indem wir die Leistungsfähigkeit und Flexibilität der Biologie nutzen, könnte dieser neue Ansatz zur Entwicklung von Medikamenten beitragen, um Krankheiten erfolgreich zu bekämpfen, die heute nicht heilbar sind.“ In der frühen klinischen Entwicklung befinden sich Krebsmedikamente, aber die Forschung kann sich vorstellen, dass PROTACs auch bei der Alzheimer-Erkrankung funktionieren oder bei Herzkreislauf-Erkrankungen für bessere Behandlungsmöglichkeiten sorgen könnten.

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