Dass das biologische Geschlecht eine Rolle dabei spielt, wie sich bestimmte Krankheiten auf Menschen auswirken und wie Betroffene medizinisch versorgt werden, ist heutzutage eine Binsenweisheit (s. „Gender Health Gap macht krank“).
Das gilt auch für Rheuma – ein Übergriff für zahlreiche unterschiedliche Leiden an Stütz- und Bewegungsapparat: „Biologische und soziokulturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern können sowohl die Ausprägung entzündlich-rheumatischer Erkrankungen als auch deren Versorgung beeinflussen“, erklären Dr. Katinka Albrecht und Prof. Dr. Anja Strangfeld vom Deutschen Rheuma-Forschungszentrum in einer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Die Innere Medizin“. Denn neben „genetischen Merkmalen und Geschlechtshormonen unterscheiden sich auch Organgrößen und -funktionen, Körperbeschaffenheit und physiologische Prozesse zwischen den Geschlechtern.“ Zusätzliche Unterschiede „in der Wahrnehmung von Schmerzen, im Gesundheitsverhalten oder in den Auswirkungen krankheitsbedingter Einschränkungen auf die soziale und berufliche Teilhabe“ seien bislang „wenig erforscht.“ Es gebe aber sowohl national als auch international „großes Interesse, eine gendergerechte Forschung in der Rheumatologie zu etablieren.“
Die beiden Wissenschaftlerinnen haben bestehende Literatur zu geschlechtsspezifischen Unterschieden untersucht und zusammengefasst. „Bei den meisten, aber nicht bei allen rheumatischen Erkrankungen überwiegt – mit unterschiedlicher Ausprägung – der Anteil an Frauen“, heißt es. Bei Rheumatoider Arthritis liegt er zum Beispiel bei 74 Prozent; bei Systemischen Lupus bei 87 Prozent.
Rheuma-Diagnose: Bei Frauen später
„Umso verwunderlicher erscheint es, dass Frauen im Durchschnitt deutlich später eine Diagnose erhalten“, findet Privatdozentin Dr. Uta Kiltz, Oberärztin am Rheumazentrum Ruhrgebiet. Albrecht und Strangfeld nennen ein Beispiel: „Obwohl Frauen häufiger an einer systemischen Sklerose erkranken, zeigen Daten […], dass es bei Frauen durchschnittlich ein Jahr länger bis zur Diagnosestellung dauert als bei Männern“. Bei den Betroffenen greift das eigene Immunsystem das körpereigene Bindegewebe an – dadurch wird eine Entzündungsreaktion ausgelöst. Die Rheuma-Liga erklärt: „Im Vordergrund steht die Verdickung und Verhärtung der Haut mit Vermehrung des Bindegewebes und eine Gefäßentzündung, von der weitere Organe wie die Lungen, der Verdauungstrakt und die Nieren betroffen sein können. Zusätzlich können Gelenk- und Muskelbeschwerden auftreten.“ Scheinbar liegt in den frühen Stadien der Erkrankung bei Männern häufiger „eine aktive Erkrankung vor als bei Frauen“. Auch zeigen sie zu diesem Zeitpunkt eher spezifische Antikörper, „erhöhte Akute-Phase-Marker“ sowie „eine muskuläre und pulmonale Beteiligung“. Es sind wichtige Merkmale, die eine frühe Diagnose unterstützen.
Anderes Beispiel: Systemischer Lupus Erythematodes – das Immunsystem greift körpereigene Zellstrukturen an, was schwere entzündliche Veränderungen der Haut, aber auch innerer Organe wie Herz, Lunge und Nieren sowie der Gelenke und Muskeln nach sich ziehen kann. In einer spanischen Kohorte wurde die Diagnose bei Männern schneller gestellt, dabei sind sie seltener betroffen. „Eine mögliche Erklärung ist die bei Männern oftmals vorliegende schwere Organbeteiligung“ – etwa in Bezug auf die Nieren. Sie haben unter anderem häufiger kardiovaskuläre Komorbiditäten, Krampfanfälle, Thrombosen und weisen eher bestimmte Antikörper auf.
In ihrer Arbeit schreiben Albrecht und Strangfeld: „Die spätere Diagnosestellung bei Patientinnen ist umso bemerkenswerter, als das Gesundheitsverhalten von Frauen eher zu einer rechtzeitigeren Diagnose führen müsste.“ Laut einer kanadischen Kohortenstudie konsultierten Frauen in den 3 Jahren vor einer Diagnose häufiger eine Rheumatolog:in und hatten häufiger labor- und bildgebende Untersuchungen. In einer anderen kanadischen Analyse zeigte sich außerdem, „dass männliche Hausärzte später eine rheumatologische Überweisung veranlassten als ihre Kolleginnen. Folglich kann auch das ärztliche Geschlecht zu Unterschieden in der Versorgung beitragen.“
Rheuma: Geschlechtsspezifische Unterschiede sind vielfältig
Über die Diagnose und das jeweilige Grundleiden hinaus konnten die Wissenschaftlerinnen weitere Aspekte ausmachen, bei denen sich weibliche und männliche Bevölkerung unterscheiden:
- Begleiterkrankungen von Rheuma: „Während Frauen mit Rheumatoider Arthritis häufiger Arthrosen, Osteoporose, Depression und Schilddrüsenerkrankungen haben, sind es bei Männern eher kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, Gicht und Niereninsuffizienz“. Insgesamt gesehen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die „Haupttodesursache von Patient:innen mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen.“ Das kardiovaskuläre Risiko werde allerdings „bei Frauen vermutlich unterschätzt“.
- Subjektive Krankheitsbelastung: Bei der Psoriasisarthritis geben Frauen „eine höhere Krankheitsaktivität, mehr schmerzhafte Gelenke, intensivere Schmerzen, häufiger Fatigue und stärkere Funktionseinschränkungen an als Männer“. Auch in Bezug auf Lebensqualität und berufliche Teilhabe beschrieben sie höhere Einschränkungen. „Die Wirkung der Sexualhormone auf das Schmerzempfinden sowie Unterschiede in der zentralen Schmerzverarbeitung werden als Faktoren mit Einfluss auf die von den Patient:innen angegebenen Schmerzen diskutiert“.
- Therapie: „Frauen haben krankheitsübergreifend häufiger niedrigere Remissions- und Therapieansprechraten in Bezug auf die antirheumatische Medikation als Männer, auch Therapieabbrüche sind bei Frauen häufiger als bei Männern“. Grundsätzlich gilt: Der Forschungsbedarf ist noch groß. So rücken „geschlechtsspezifische Einflüsse auf Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil antirheumatischer Medikamente […] gerade erst in den Fokus wissenschaftlicher Studien.“ Vermutlich sollte in der Therapie rheumatischer Erkrankungen stärker als bisher das Geschlecht berücksichtigt werden: Die Genderforschung in der Kardiologie lege „nahe, dass durch angepasste Therapiestrategien Überdosierungen und Therapieabbrüche reduziert werden können.“
Es gibt viel zu tun: „Wir müssen die geschlechtsspezifischen Krankheitsausprägungen besser verstehen und diese Erkenntnisse in die Diagnostik und Therapie einfließen lassen“, betont Professor Dr. Christoph Baerwald, Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) und emeritierter Leiter der Abteilung Rheumatologie am Universitätsklinikum Leipzig.
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Gender Health Gap macht krank
„Wäre Endometriose eine Männerkrankheit, wüsstet ihr genau, was das ist“, sagt Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. Stattdessen ist diese Unterleibserkrankung für viele Menschen eine große Unbekannte. Es ist ein Beispiel von vielen, das verdeutlicht, wie riesig das „Gender Health Gap“ noch immer ist. Die Folge dieser „Lücke“ in Medizin und Gesundheitswesen: Menschen, die nicht in das Raster von „männlich, weiß, cisgender“ passen, erhalten oftmals eine schlechtere gesundheitliche Versorgung.
Herzinsuffizienz: Frauen werden schlechter versorgt
Die chronische Herzinsuffizienz ist eine Krankheit, die bei Männern wie Frauen in etwa gleichen Anteilen vorkommt. Das ist aber dann schon fast die einzige Gemeinsamkeit. Frauen erhalten nicht dieselbe Qualität bei Diagnose, Therapie und Nachbehandlung wie Männer. Medizinisch begründbar ist das nicht.
Mehr Leben, mehr Gesundheit: Vom Nutzen der Medizin
Ein Kind hat Diabetes Typ 1? Dann erhält es Insulin. Eine Frau leidet unter einer bakteriellen Blasenentzündung? Es gibt Antibiotika. Ein Mann mit Bluthochdruck – bekommt blutdrucksenkende Medikamente. Und rund 30 Erkrankungen können durch Impfungen vermieden werden. Das ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts selbstverständlich – den medizinischen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte machen wir uns kaum bewusst. Genauso wie den in der Zukunft: Die Medizin von Morgen wird individuell, hochtechnisch, hochdifferenziert. Das forschende Pharmaunternehmen Pfizer hat daher ein „Scrollytelling“ konzipiert: Indem die Leser:innen über eine Website „scrollen“, erfahren sie, was sich seit 1900 getan hat. So wird der Nutzen der Medizin greifbar.