„To spill over“ meint so viel wie „überlaufen“; „to spill over to something“ heißt „sich auf etwas ausweiten“. Letztlich beschreibt es genau das, was sogenannte „Zoonosen“ tun können: Es sind Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen (und andersherum) übertragen werden können. Heutzutage sind mehr als 250 zoonotische Viren bekannt: Darunter ist nicht nur SARS-CoV-2, das für die aktuelle Pandemie verantwortlich ist. Darunter ist auch HIV, Ebola oder Zika. Hinzu kommen viele Unbekannte: „Man geht davon aus, dass es circa 1,67 Millionen bislang nicht beschriebene Viren in Säugetieren und Vögeln gibt; bis zur Hälfte von ihnen haben schätzungsweise das Potential auf Menschen überzugehen“, erklärt ein US-amerikanisches Forschungsteam in einem Artikel für die „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ (PNAS).
Trotz der Erfahrungen mit anderen Erregern wie Ebola war die Weltgemeinschaft „unvorbereitet“ auf SARS-CoV-2, steht darin geschrieben. Auf der Webseite „SpillOver“ heißt es weiter: „Zoonotische Viren haben viele der Epidemien und Pandemien dieser Welt verursacht. Um die nächste zu verhindern, müssen wir wissen: Wie und warum wird ein Virus aus der Tierwelt zoonotisch? Welche Viren stellen die größte Bedrohung dar? Wie können wir unser Verhalten ändern, um Krankheitsausbrüchen vorzubeugen und die Tierwelt, die lebenswichtig für unser Ökosystem und das Leben auf der Erde ist, zu schützen?“
Das nächste Pandemie-Virus? Ein Risiko-Ranking.
Die Forschenden untersuchten über 500.000 Proben aus fast 75.000 Tieren, analysierten Studien und befragten Fachleute weltweit. Das Ergebnis ist ein Ranking von 887 Wildtier-Viren auf Basis von 31 „Risikofaktoren“, die jeweils die Wahrscheinlichkeit eines „spillover“ auf den Menschen erhöhen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Krankheitserreger nicht nur eine, sondern viele verschiedene Tierarten befallen kann. Oder wenn diese Tierarten – etwa aufgrund von Entwaldung, intensiver Landwirtschaft oder Städtebildung – in engem Kontakt zum Menschen leben (müssen). Berücksichtigt wird aber auch die genetische Struktur des jeweiligen Virus, dessen Übertragungswege – oder ob es bereits eine Pandemie verursacht hat.
Die ersten zwölf Viren, die aktuell im Risiko-Ranking ganz oben stehen, sind alle bereits als „zoonotisch“ bekannt. Das heißt, sie sind schon mindestens einmal auf den Menschen übergesprungen: Das Lassa-Virus, SARS-CoV-2 und Ebola besetzen die ersten drei Ränge. Dass SARS-CoV-2 trotz der aktuellen Pandemie „nur“ Platz 2 belegt, hat mehrere Gründe: Dazu gehört, dass noch einige entscheidende Informationen fehlen – wie etwa die Zahl der Wirtsarten, die das Virus befallen kann. „Wenn Forschende mehr über das Virus lernen, wird SARS-CoV-2 womöglich auf den ersten Platz rutschen“, heißt es bei der University of California, Davis (UC Davis), die an dem Aufbau der Datenbank beteiligt war.
Übrigens: Allein unter den Top-20 der risikoreichsten Viren sind fünf verschiedene Coronaviren, die noch nie auf den Menschen übergesprungen sind – das muss aber nicht so bleiben. Auf Platz 13 ist zum Beispiel das „Coronavirus 229E (Bat strain)“. Die Datenbank gibt konkrete Einblicke in die Eigenschaften des Erregers, die ihn für den Menschen potenziell gefährlich machen. Ein relativ hohes Risiko besteht demnach dadurch, dass Menschen häufig mit jenen Wildtieren, die das Virus in sich tragen, in Kontakt kommen. Allerdings ist die geografische Verteilung des Virus eher als „mittel“ einzustufen. Es wurde bislang bei Tieren in verschiedenen Ländern Afrikas entdeckt.
One Health: Gesundheit von Tieren, Menschen und Umwelt
Die Ökologin Zoë Grange fordert: „Wir müssen virale Bedrohungen mit dem größten Spillover-Risiko nicht nur identifizieren, sondern auch priorisieren, bevor es zu einer weiteren verheerenden Pandemie kommt.“ Sie arbeitet für das „One Health Institute“ der UC Davis, an dem Expert:innen der verschiedensten Fachbereiche zusammenkommen – wie etwa der Agrarwissenschaft, der Anthropologie, Ökonomie, Pädagogik, Epidemiologie, Tier- und Humanmedizin oder Mikrobiologie.
Auf der Webseite des Instituts heißt es: „Der One Health-Ansatz erkennt die zunehmende Verbindung zwischen der Gesundheit von Tieren, Menschen und der Umwelt an. Er erfasst, dass Menschen nicht in Isolation existieren, sondern Teil eines größeren, […] lebendigen Ökosystems sind.“ Das Tun eines jeden Mitglieds dieses Systems habe Auswirkungen auf die anderen. Um Krankheiten vorzubeugen, müssen daher all diese Bereiche in den Blick genommen werden.
Handeln, bevor eine Pandemie entsteht
In den Augen der Epidemiologin Jonna A.K. Mazet, die ebenfalls am One Health Institute der UC Davis tätig ist, soll die „SpillOver“-Rangliste im besten Fall „eine globale Diskussion starten, die es uns ermöglicht, weit über die Art und Weise hinauszugehen, wie wir in der Vergangenheit über das Ranking von Viren nachgedacht haben“. So kann die Datenbank Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft dabei helfen, Viren zu priorisieren, um sie weiter zu erforschen, zu überwachen und präventive Maßnahmen zu ergreifen. Zudem ermöglicht sie „eine wissenschaftliche Zusammenarbeit in Echtzeit“, um „neue Bedrohungen frühzeitig zu erkennen“.
Forschende weltweit sind dazu aufgerufen, zusätzliche Erkenntnisse zu den gelisteten Viren hinzuzufügen. Entdecken sie einen neuen Erreger, können sie dessen Spillover-Risiko bewerten lassen. So wird die Datenbank laufend aktualisiert. Letztlich soll sie die Weltgemeinschaft „in die Lage versetzen zu handeln, um das Risiko eines Spillover zu reduzieren, bevor eine Pandemie ausbricht“, betont Mazet. Informativ ist „SpillOver“ nicht nur für Fachleute. Interessierte aus der Bevölkerung können die Rangliste zum Beispiel nutzen, indem sie sie auf das Land, in dem sie leben, anpassen. Für Deutschland werden aktuell 13 Viren mit SpillOver-Risiko gerankt, die in der hiesigen Tierwelt vorkommen.