Der Vorstandsvorsitzende der Charité Prof. Dr. Heyo K. Kroemer sieht mit Sorge  wie sehr Deutschland bei der Frage der Digitalisierung von Gesundheitswesen  von Forschung und Medizin  sich selbst ins Abseits stellt. Foto: ©iStock.com/Grassetto
Der Vorstandsvorsitzende der Charité Prof. Dr. Heyo K. Kroemer sieht mit Sorge wie sehr Deutschland bei der Frage der Digitalisierung von Gesundheitswesen von Forschung und Medizin sich selbst ins Abseits stellt. Foto: ©iStock.com/Grassetto

Digitale Medizin: Die „Teslarisierung“ der deutschen Forschung

Der Vorstandsvorsitzende der Charité Prof. Dr. Heyo K. Kroemer sieht mit Sorge, wie sehr Deutschland bei der Frage der Digitalisierung von Gesundheitswesen, von Forschung und Medizin, sich selbst ins Abseits stellt. Er plädiert für eine neue Balance zwischen berechtigten Datenschutzerwägungen und dem Recht von Patient:innen auf eine bessere Versorgung. Ein Gespräch mit dem Chef des größten deutschen Universitätsklinikums über ein Land ohne digitalen Impfpass, über Umsetzungsprobleme und seine Sorge über das, was er die „Teslarisierung“ im Gesundheitswesen nennt.

Welche Chancen und Möglichkeiten ergeben sich durch die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens?

Prof. Dr. Heyo K. Kroemer: Da muss man in zwei Richtungen sehen. Zum einen die individualisierten Chancen für jeden Einzelnen von uns und zum anderen die Chancen für die Gesellschaft. Fangen wir damit an, was ich als Patient oder Patientin davon habe: In einem digitalisierten System habe ich meine Gesundheitsdaten wohnortunabhängig bei mir und ständig verfügbar. Und ich würde sehr vieles, was heute als Zweituntersuchung läuft – und das nur, weil die Daten zwar da, aber nicht verfügbar sind – nicht mehr machen müssen. Natürlich unter der Voraussetzung, dass das Dateneigentum bei den Patienten liegt. Wir würden es in anderen Bereichen niemals akzeptieren, dass man die Informationen, die man benötigt, als Brief bei sich führt. Aber das ist im Jahr 2021, wenn Sie ein bundesdeutsches Krankenhaus verlassen, die Realität.

Und welche Chancen sehen Sie gesamtgesellschaftlich?

Prof. Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité. Foto: Wiebke Peitz
Prof. Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité. Foto: Wiebke Peitz

Kroemer: Die Digitalisierung ist Motor für Fortschritt. Manche Erkrankungen können wir schon heute ohne die Verarbeitung großer Datenmengen gar nicht mehr nach dem Stand der Forschung behandeln. Lungenkrebs ist ein Beispiel, wo durch die zielgerichtete Therapie in den vergangenen Jahren viel erreicht wurde. Aber die Grundlage für zielgerichtete Therapien ist ein sinnvoller Umgang mit Gesundheitsinformationen. Wir haben in Deutschland allerdings das Phänomen, dass viele Patientinnen und Patienten zwar bereit sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, aber es eine sehr große Zurückhaltung gibt, dass diese auch kommerziell genutzt werden können…

… zum Beispiel durch die forschende Pharmaindustrie?

Kroemer: Ja. Da gibt es eine große Zurückhaltung, selbst bei vielen Erkrankten. Meines Erachtens müsste man darauf reagieren, in dem man die Strukturen, in denen man die Daten hält, im öffentlichen Bereich lässt.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat im März sein Gutachten zur Digitalisierung im Dienst der Gesundheit vorgelegt. Grundtenor: Eine sinnvolle Datennutzung ist hierzulande fast unmöglich. Wo stehen wir in Deutschland?

Kroemer: Es ist eine Situation, die nur sehr schwer erträglich ist. Am deutlichsten sehen Sie das in der aktuellen Impfkampagne. Wir haben an der Charité 16.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geimpft und haben 16.000-mal einen handschriftlichen Eintrag in ein kleines gelbes Heftchen gemacht. Das ist vollkommen inakzeptabel, denn es bedeutet: Wir haben keinen digitalen Zugriff auf das Impfgeschehen.

Damit ist eine Impfkampagne wie in Israel, die sehr schnell ein hohe Durchimpfungsrate erreicht hat, gar nicht möglich?

Kroemer: Genau. Das, was Israel macht – nämlich online und in Echtzeit zu schauen, was bei der Kampagne herauskommt – ist doch essenziell. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand etwas dagegen hat, dass die Tatsache, dass er oder sie geimpft ist, digital erfasst ist. Außerdem wäre allen geholfen, wenn man etwa Nebenwirkungen zeitnah erfassen könnte.

Ist die Pandemie ein Beschleuniger in Sachen Digitalisierung?

Kroemer: Ja, die Pandemie ist schon ein Trigger für vielfältige Initiativen – auch mit dem, was Gesundheitsminister Jens Spahn mit dem Krankenhausgesetz machen will. Wir tun sehr viel in die richtige Richtung. Aber wenn Sie das mit dem vergleichen, was andere Länder in dieser Hinsicht erreicht haben, ist das alles immer noch vollkommen inakzeptabel.

Wen meinen Sie mit anderen Ländern?

Kroemer: Schauen Sie sich den Digitalisierungsgrad in Skandinavien oder den Niederlanden an. Schauen Sie sich Länder an, die man gar nicht so auf dem Schirm hat, wie Spanien oder Estland. Dort ist die Gesundheitsversorgung schon sehr nachhaltig digitalisiert. Dort sind Krankenhäuser, die wie bei uns noch sehr Papier getrieben sind, gar nicht mehr denkbar.

Über einen digitalen Impfpass wird diskutiert. Foto: © iStock.com/Rallef
Über einen digitalen Impfpass wird diskutiert. Foto: © iStock.com/Rallef

Haben wir in Deutschland ein Umsetzungsproblem?

Kroemer: Das muss man zweigeteilt sehen. Die Dinge, die in Deutschland normalerweise sehr gut funktionieren wie die stationäre Krankenversorgung, funktionieren auch in dieser Krise gut. Wenn wir aber die kleinste Kleinigkeit neu machen wollen – zum Beispiel jemanden an der Ecke impfen – kriegen wir das nicht mehr hin. Bei allem, was neu etabliert werden muss, haben wir ein fundamentales Umsetzungsproblem und das unabhängig von der Größe des Unterfangens. Das gilt selbst für einfache Dinge wie zum Beispiel einen digitalen Impfpass, über den wir seit vielen Jahren diskutieren. Aber das Umsetzungsproblem ist nur ein Teil unseres Problems.

Und der andere Teil?

Kroemer: Wir haben in Deutschland komplexe Strukturen, die die Digitalisierung nicht wollen. Es fehlt auch der politische Wille. Schauen Sie in die USA: Dort hat man in nur zwei Jahren die Krankenhäuser digitalisiert. Dafür wurden ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt, aber auch gesagt: Wenn ihr in zwei Jahren kein vernünftiges Krankenhausinformationssystem habt, könnt ihr nicht mehr abrechnen. Mit dieser Kombination von Zug und Druck sind die enorm schnell vorangekommen. An dem Verfahren gibt es auch Kritik – klar – aber sie haben viel erreicht. Bei uns hingegen gibt es in der Krankenhausfinanzierung kein Budget für Digitalisierung.

Wie bitte?

Kroemer: Nein. Ein durchschnittliches deutsches Krankenhaus gibt ein bis zwei Prozent seines Gesamtbudgets für digitale Aktivitäten aus. In den USA sind es zwischen sechs und sieben Prozent. In den Fallpauschalen ist so gut wie nichts für die Digitalisierung drin. Dafür sind die Länder zuständig und die haben relativ wenig Geld.

Es scheint, in Deutschland werden v.a. die Risiken von Datennutzung betont. Nehmen wir zu wenig in den Blick, dass Datenschutz dazu führen kann, dass Patient:innen nicht so versorgt werden, wie das eigentlich möglich wäre?

Kroemer: Das ist eine Kernfrage: Wo zieht man vernünftige Grenzen des Datenschutzes, den man ja gerade bei persönlich sensiblen Gesundheitsdaten unbedingt braucht. Und den wir keinesfalls so auflockern wollen, wie das in China oder den USA der Fall ist. Leider hat sich die Datenschutzdiskussion ein Stück weit verselbständigt und ist weit weg von der Frage, was man eigentlich Positives aus solchen Informationen machen kann. Hier müssen wir wieder in eine Balance kommen. Aber auch hier gilt: Datenschutz kostet. Datenschutz ist die untrennbare andere Seite der Medaille der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wenn ich das will, muss ich auch für eine entsprechende finanzielle Ausstattung der notwendigen Systeme sorgen. Das ist in Deutschland nicht passiert. Wir erhöhen die Anforderungen an den Datenschutz, stellen aber die notwendigen Ressourcen, um das umzusetzen, nicht zur Verfügung.

Ziel: Ausgleich zwischen Datenschutz-erwägungen & Patientenschutzinteressen. Foto: ©iStock.com/marchmeena29
Ziel: Ausgleich zwischen Datenschutz-erwägungen & Patientenschutzinteressen. Foto: ©iStock.com/marchmeena29

Aber vom Geld abgesehen: Würden Sie sagen, dass in der Debatte der Patientenschutz hinten runterfällt?

Kroemer: Die Patientenseite ist bisher wenig in die Diskussion mit eingeflossen. Das Bundesforschungsministerium hat im Bereich der Universitätsmedizin mit der Medizininformatik-Initiative ein paar Standards gesetzt. An den Diskussionen waren auch Patientenvertreter beteiligt, die ein massives Interesse geäußert haben, Informationen zur Verfügung zu stellen – gerade im Bereich der öffentlichen Forschung. Wir brauchen einen vernünftigen Ausgleich zwischen berechtigten Datenschutzerwägungen und berechtigten Patientenschutzinteressen. Die Patientenseite ist in Deutschland sehr stark unterbetont.

Was passiert, wenn wir so weiter machen wie bisher?

Kroemer: Dazu habe ich eine klare Meinung. Denken Sie mal – Stichwort: Elektromobilität – sechs Jahre zurück. Die deutsche Automobilindustrie – als eine weltweit anerkannte Leitindustrie – verschläft den Technologiewandel und vor den Toren Berlins entsteht ein Werk der US-Firma Tesla. Es ist im Grunde die Umsetzung eines Technologievorsprungs. Ich bin fest überzeugt: Wenn wir uns im Bereich der Digitalisierung der Medizin nicht bewegen, erleben wir in Deutschland so etwas wie eine Teslarisierung des Gesundheitswesens.

Erklären Sie das bitte genauer.

Kroemer: Damit meine ich, dass digital aufgestellte Anbieter, die in den USA und auch China mittlerweile sehr stark vertreten sind, ihre Produkte bei uns anbieten werden. Folglich wird genau das gleiche passieren, was der Autobranche droht: Wenn wir uns nicht ändern, werden wir zwar möglichweise noch die Hardware herstellen, aber das technologische Herz werden wir einkaufen müssen. Auf das Gesundheitswesen übertragen heißt das: Wir haben noch die Krankenhäuser. Die Innovationen müssen wir allesamt einkaufen. Das können wir auf keinen Fall wollen.

Heißt das: Deutschland wird die verlängerte Werkbank?

Kroemer: Die Datensammlungen, die überall genutzt werden, nur bei uns nicht, geben diesen Anbietern die Möglichkeit, ableitbare Informationen zu Krankheitsverlauf und Behandlungsstrategien zu verkaufen. Damit nehmen sie deutschen Unternehmen einen Kern ihres Geschäfts weg. Schauen Sie sich eine Apple Watch an. Da legen Sie Ihren Finger auf die Krone, leiten ein EKG ab und bekommen eine zertifizierte Diagnose, ob Sie ein Vorhofflimmern haben – eine der häufigsten Herzrhythmusstörungen älterer Patienten. Denken Sie das zehn Jahre weiter: Was man mit dieser Sensorik so alles machen kann. Wenn wir da technologisch mitspielen wollen, müssen wir uns bewegen. Und zwar jetzt.

Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland: Es bleibt viel zu tun. Foto: ©iStock.com/Grassetto
Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland: Es bleibt viel zu tun. Foto: ©iStock.com/Grassetto

Die Pandemie hat einiges aufgebrochen. Leiten Sie daraus die Hoffnung ab, dass davon einiges verstetigt wird?

Kroemer: Die Hoffnung habe ich. Denn die Erfahrung dieses in Teilen fundamentalen Nicht-Funktionierens großer Systeme wird in Deutschland Veränderungen anstoßen. Wir werden nach der Pandemie im Sinne von „Lessons Learned“ sehen, dass viele der menschlichen und auch wirtschaftlichen Schäden, die entstanden sind, bei einer besseren Aufstellung in Teilen vermeidbar gewesen wären. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Konsequenzen hat.

Sie haben noch Hoffnung…

Kroemer: Wenn das politisch wirklich gewollt würde und man es fachlich unterstützt begleitet, würden wir den Nachholbedarf, den wir haben, mit Sicherheit schnell und erfolgreich hinbekommen. Aus meiner Sicht ist das auch ohne Alternative. Schauen Sie sich an, was in den kommenden Jahren allein als demografischer Wandel auf uns zu kommt: Da werden wir ohne eine Digitalisierung überhaupt nicht durchkommen.

Das Interview wurde anlässlich des Symposiums „Vision Zero – Die Neuvermessung der Onkologie“ geführt.

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