Eine „Italienerin ist nicht anders krank als eine Belgierin und ein Spanier profitiert nicht anders von einer Arzneimitteltherapie als ein Österreicher“, schreibt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) auf seiner Webseite. Stimmt. Und doch ist bislang nur die Zulassung von Arzneimitteln im europäischen Wirtschaftsraum zentral über die Europäische Arzneimittelbehörde EMA organisiert. Eine einheitliche Bewertung des Nutzens dieser Wirkstoffe gibt es bislang nicht. Im Gegenteil: Von Land zu Land existieren hier große Unterschiede – in der Europäischen Union (EU) herrscht Kraut und Rüben.
In Deutschland gilt seit 2011 das sogenannte AMNOG-Verfahren. Ein neues Arzneimittel muss sich darin gegenüber einer bereits auf dem Markt verfügbaren Therapie behaupten. Die daraus gezogene Zusatznutzenbewertung bildet die Basis für die Preisverhandlungen des pharmazeutischen Unternehmers mit dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankversicherung (GKV).
EU-weite Nutzenbewertung: Doppelarbeit vermeiden
Aber nicht nur in Deutschland auch beispielsweise in Schweden oder in den Niederlanden finden eigene Nutzenbewertungen statt. „Dann muss man sich schon erstmal grundsätzlich die Frage stellen: Macht das Sinn, dass […] wir doch relativ häufig uns im Grunde dieselben Dinge immer wieder neu ansehen?“, sagt Gesundheitsökonom Prof. Dr. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld.
Eine europäische Nutzenbewertung könnte diese Doppelarbeit vermeiden und finanzielle sowie personelle Ressourcen sparen. Und auch den Aufwand der pharmazeutischen Unternehmer könnte sie reduzieren – letztendlich zum Wohle der Patienten. Die Preisgestaltung und Erstattungsfragen sollen laut EU-Kommission jedoch nach wie vor Ländersache bleiben.
Welche Methodik, welche wissenschaftlichen Standards?
Trotzdem: Ganz so einfach ist eine Vereinheitlichung nicht. Nicht nur herrschen von Land zu Land andere Versorgungsstandards; zusätzlich sind die Methoden der Nutzenbewertung unterschiedlich. Darauf weist auch eine Studie aus dem Jahr 2016 hin, die hinsichtlich dieses Gesichtspunktes verschiedene Länder – darunter Deutschland und England – verglichen hatte (s. Pharma Fakten). Demnach gehen diese etwa mit sogenannten Surrogatparametern unterschiedlich um. Diese bieten als „Ersatzgröße“ die Möglichkeit, eine Annahme über den Nutzen eines Medikamentes zu treffen, ohne auf das Ergebnis jahrzehntelanger Studien warten zu müssen. Ein Beispiel: Menschen mit einem hohen Blutdruck haben ein höheres Risiko für Schlaganfälle. Daher wird in manchen Untersuchungen gemessen, ob ein Medikament den Blutdruck senkt. Daraus soll abgeleitet werden, dass die Einnahme dieses Medikamentes Schlaganfälle verhindern kann. Der Gebrauch von Surrogatparametern ist nicht unumstritten – und sie sind nur ein Beispiel von vielen, in denen sich die Methodiken der Nutzenbewertungen unterscheiden können.
„Wir haben bis heute noch keine klare Festlegung, welche wissenschaftlichen Standards […], welche Methodiken zu Grunde gelegt werden. Wir haben kein klares Bekenntnis zur evidenzbasierten Medizin“, kritisiert Prof. Josef Hecken. Er ist Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der in Deutschland mit der Zusatznutzenbewertung betraut ist. Laut Hecken ist eine europäische Nutzenbewertung im Grunde zwar der richtige Ansatz; die Initiative komme jedoch „zu früh“. Das sieht Prof. Greiner anders:
„Das ist der richtige Zeitpunkt jetzt, das auf den Weg zu bringen. Um das ‚Wie?‘ muss man allerdings natürlich noch weiter ringen.“ Greiner weiß durchaus um die Befürchtung mancher Experten, laut der eine europäische Nutzenbewertung die deutschen Bewertungsstandards herabsetzen könnte; doch er appelliert gegen negative Stimmungsmache. Die Einstellung nach dem Motto „Alles, was jetzt kommt, kann nur schlechter werden.“ findet er „einem guten Europäer nicht angemessen.“
Europa als Markt stärken
Auch Han Steutel, vfa, sieht das positiv: „Wir denken, dass die meisten Nachteile, die jetzt gesehen werden […], aufgehoben werden können.“ Ein Vorteil einer europäischen Nutzenbewertung ist für ihn, dass sie Europa als Markt stärken kann. „Gegenüber den USA.“ Aber auch die Rolle von China werde jedes Jahr größer. „Das bedeutet, dass für uns als Europäer es umso wichtiger wird als europäischer Markt auftreten zu können.“ Er plädiert dafür, so gut wie möglich in Deutschland mit einer Stimme zu sprechen: Denn je einheitlicher man hierzulande auftreten könne, desto größer sei die Chance, dass das Ergebnis eine Gesetzgebung ist, die im besten Sinne für Deutschland ist.
Anfang Oktober hat das EU-Parlament den Verordnungsentwurf der Kommission zur Vereinheitlichung der Nutzenbewertung mit Änderungen angenommen. Im nächsten Schritt beraten nun die Mitgliedstaaten im Ministerrat darüber. Noch heißt es abwarten. Doch wie EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis selbst sagt: Der Plan hat „das Potenzial für eine Revolution im Gesundheitswesen“. Sein Ziel sei es, durch die vereinheitlichten Verfahren Patienten in ganz Europa möglichst rasch Zugang zu echten Innovationen zu ermöglichen.
Hier haben die deutschen Patienten gegenüber Menschen in anderen Ländern bereits einen erheblichen Vorteil: Wie Daten des Beratungsunternehmens IQVIA in „Pricing and Market Access Outlook. 2017 Edition“ zeigen, vergehen in Deutschland von der Zulassung eines pharmazeutischen Produkts bis hin zum ersten Verkauf nur durchschnittlich 3,1 Monate. In Großbritannien sind es 4,5; in Frankreich 7,9 und in Italien sogar 15,6.