„Als wir unseren diesjährigen Biotech-Report konzipierten, war von SARS-CoV-2 und Covid-19 noch keine Rede“, erklären Mathias und Lücke. Doch Tatsache ist: Bei der Eindämmung der Pandemie nimmt die medizinische Biotechnologie eine „Schlüsselrolle“ ein. „Mit ihrem Know-how und ihren Technologien konnten in Rekordzeit das Genom des neuen Coronavirus entziffert und spezifische Tests für den Nachweis der Infektion entwickelt werden.“ Außerdem befinden sich zahlreiche neue oder bereits bekannte Wirkstoffe – darunter viele Biopharmazeutika – in klinischer Prüfung. „Parallel dazu sind rund 150 Impfstoffprojekte angelaufen“.
Aber auch gegen viele weitere Erkrankungen sind Biopharmazeutika in Entwicklung: Insgesamt befanden sich 2019 640 Präparate von in Deutschland tätigen Firmen in den klinischen Studienphasen I bis III.
Biopharmazeutika decken medizinischen Bedarf
„Biopharmazeutika sind wirtschaftlich erfolgreich, weil sie einen medizinischen Bedarf decken. Deshalb setzen Ärzte sie noch öfter ein als zuvor – etablierte Mittel ebenso wie die zahlreichen Neuzulassungen der Vorjahre“, erklärte Mathias bei der Vorstellung des Reports in Frankfurt am Main.
Die Zahlen belegen das: So erhöhte sich 2019 in Deutschland der Umsatz mit biopharmazeutischen Arzneimitteln (Apotheken- und Klinikmarkt) gegenüber 2018 um 13 Prozent auf 12,7 Milliarden Euro – das entspricht einem Anteil am Gesamtpharmamarkt von rund 29 Prozent (2018: rund 27 %). 15 Biopharmazeutika (Originale und Biosimilars) wurden im vergangenen Jahr in der Europäischen Union (EU) neu zugelassen.
Der Standort Deutschland hat bei der Entwicklung und Produktion biopharmazeutischer Präparate einen „wichtigen Anteil“, meint Dr. Mathias. Er ist sich sicher: Die Bundesrepublik kann „hier Stärken in Technologie und Qualifikation gegenüber Ländern mit niedrigerem Lohnniveau ausspielen“.
Gen-, Zell- und Gewebetherapeutika: Deutschland hinkt hinterher
Noch Luft nach oben besteht hierzulande allerdings bei der Klasse der sogenannten „Advanced Therapy Medicinal Products“ (ATMP). Gemeint sind Gen-, Zell- und Gewebetherapeutika. „Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Patienten durch eine einmalige Behandlung oft eine langanhaltende Besserung ihrer Krankheit erleben – etwa, wenn ein angeborener Gendefekt korrigiert oder stark geschädigtes Gewebe regeneriert werden kann“, heißt es in einer Pressemitteilung von vfa bio.
Derzeit seien zehn Medikamente dieser Art zugelassen. Darunter befinden sich z.B. sogenannte CAR-T-Zelltherapien, die schwerstkranken Krebspatienten Hoffnung geben, wo vorher keine mehr war.
Mittlerweile „finden weltweit mehr als 1.000 Studien für weitere ATMP statt“, so vfa bio. Allerdings werden rund 47 Prozent davon in den USA durchgeführt, 39 Prozent in China – und 4,4 Prozent in Deutschland. Man hinke „als Studienstandort deutlich hinterher“, stellt Dr. Lücke, BCG, fest. Gründe? Eine langsame „Translation neuer Therapieansätze aus der Forschung in die klinische Prüfung“ – oder fehlende Produktionskapazitäten. „Deutschland muss sich entscheiden, ob es eine tragende Rolle bei diesen zukunftsträchtigen Technologien spielen und Wertschöpfung hier am Standort generieren möchte. Diese Chance sollte jetzt genutzt werden”, fordert der Experte.
Das Potenzial ist da: So gibt es laut Mathias einen „harten Kern aus ATMP-Kompetenz und dezidierten Unternehmen sowie akademischen Forschungsgruppen“. Gebraucht werde „aber ein großrahmiger Plan.“ In diesem Sinne empfehlen vfa bio und BCG unter anderem die Gründung eines „Deutschen Zentrums der Gesundheitsforschung“ für ATMP, um die notwendige Infrastruktur und Vernetzung zu schaffen. Auch sehen sie z.B. die Notwendigkeit eines Ausbaus und einer Automatisierung der ATMP-Produktion.
Therapieerfolge durch ATMPs
Lücke und Mathias erklären im Biotech-Report, dass die ATMPs zeigen, „was durch den wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt möglich wird“. Sie sprechen von Therapieerfolgen, „von denen wir zu unseren Studienzeiten noch nicht zu träumen wagten.“ Prof. Dr. Christoph Klein vom „Dr. von Haunerschen Kinderspital“ der Ludwig-Maximilians-Universität München verweist in einem Beitrag etwa auf die schwere frühkindliche Netzhautdystrophie, „die in den ersten Lebensjahrzehnten zur Erblindung führt“. Seit 2018 könne „ein bestimmter Subtyp dieser Erkrankung mit Adeno-assoziierten Viren behandelt werden, die die korrekte Kopie des fehlenden RPE65-Gens in die Netzhaut bringen.“ Für derartige Erfolge waren – so Mathias und Lücke – „kontinuierliche Investitionen in Forschung und Entwicklung über Jahrzehnte und Durchhaltevermögen bei allen Rückschlägen erforderlich.“