Rückblick 2021 und 2022: „Extremwetterereignisse verursachten Zerstörung in allen Ländern – eine zusätzliche Last für Gesundheitswesen, die bereits mit den Folgen der COVID-19-Pandemie zu kämpfen hatten. Überflutungen in Australien, Brasilien, China, Westeuropa, Malaysia, Pakistan, Südafrika und Südsudan hatten tausende Todesfälle zu Folge, vertrieben hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat und führten zu Wirtschaftsverlusten in Milliardenhöhe. Brände richteten Verwüstungen in Kanada, in den USA, in Griechenland, Algerien, Italien, Spanien und in der Türkei an – und Rekordtemperaturen wurden in vielen Ländern erreicht […]. Dank Fortschritten der Wissenschaft […] konnte der Einfluss des Klimawandels auf viele Ereignisse bemessen werden.“ Das schreiben die Autor:innen des „Lancet Countdown 2022“. Mit dem jährlich erscheinenden Bericht haben sie es sich zur Aufgabe gemacht das Zusammenspiel von Klimakrise und öffentlicher Gesundheit abzubilden – sie wollen sicherstellen, dass der Faktor Gesundheit im Herzen der Maßnahmen steht, die Regierungen im Kampf gegen die Klimakrise ergreifen.
Hitzetote, Infektionskrankheiten, Mangelernährung
„Die Zahl hitzebedingter Todesfälle ist im Zeitraum von 2017 bis 2021 im Vergleich zu den Jahren 2000 bis 2004 um 68 Prozent höher gewesen“, heißt es. „Gleichzeitig beeinflusst der Klimawandel die Ausbreitung von Infektionskrankheiten“. Ein Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung des Denguefiebers war zwischen 2012 und 2021 rund 12 Prozent höher als noch zwischen 1951 und 1960.
Hinzu kommt: Letztlich leidet die Gesundheit, wenn Menschen zunehmende Wirtschaftsverluste durch die Folgen der Klimakrise hinnehmen müssen und gleichzeitig mit Auswirkungen von Pandemie, Energiekrise und ähnlichem belastet sind. Aufgrund von Hitze können Menschen teilweise nicht arbeiten gehen – beziffert wird das im Lancet Countdown-Bericht mit rund 669 Milliarden US-Dollar an potentiellen weltweiten Einkommensverlusten für 2021. Extremwetterereignisse waren für Schäden in Höhe von 253 Milliarden US-Dollar verantwortlich.
Und dann ist da noch das Thema Ernährung. Eine Analyse von 103 Ländern zeigt: In Folge von Hitzewellen waren 2020 etwa 98 Millionen mehr Menschen von einer mäßigen bis schweren Ernährungsunsicherheit betroffen als im Schnitt der Jahre 1981 bis 2010. „Das zunehmend extreme Wetter nimmt globalen Lebensmittelsystemen die Stabilität – im Zusammenspiel mit anderen Krisen macht das Fortschritte im Kampf gegen Hunger zunichte“, schreiben die Expert:innen. Es wundert daher nicht, dass Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Lauterbauch auf einem deutschen Launch-Event zum Lancet Countdown den Klimawandel als „Mutter aller Krisen“ bezeichnete.
Fokus auf Gesundheit legen
Laut den Lancet Countdown-Expert:innen ist die Welt an einem „kritischen Punkt“ angekommen. Weil mehrere Krisen gleichzeitig ablaufen, bestehe die Gefahr, dass Maßnahmen gegen die globale Erderwärmung aufgeschoben werden, weil andere Herausforderungen „fälschlicherweise als drängender wahrgenommen werden.“ So habe die COVID-19-Pandemie dazu geführt, dass rund 30 Prozent aller analysierten Städte die Gelder reduzierten, die für Klimaschutz gedacht waren. Das kann nach hinten losgehen, wenn durch den Klimawandel die Entstehung von neuen Pandemien begünstigt wird.
„Regierungen weltweit subventionieren weiterhin fossile Brennstoffe – bis zu einer Summe von mehreren Hundertmilliarden Dollar jährlich. In vielen Fällen entspricht oder übersteigt es ihr gesamtes Gesundheitsbudget“, so die Kritik. Dieses Vorgehen sei der Türöffner zu einer „verheerend wärmeren Zukunft mit katastrophalen Gesundheitsauswirkungen“.
Eine bessere Welt ist möglich: Sich von fossilen Energieträgern abzuwenden – das könnte zahlreiche Todesfälle in Folge von Luftverschmutzung verhindern. Mehr Grünflächen anlegen: Das macht Städte lebenswerter, gesünder – und sie sind besser vor den Auswirkungen der globalen Erderwärmung geschützt. Eine pflanzenbasiertere Ernährung verfolgen: Das würde viele Menschen davor bewahren, einer ungesunden Ernährung mit zu viel rotem Fleisch sowie Milchprodukten und zu wenig Gemüse bzw. Obst zum Opfer zu fallen.
Klima- und Gesundheitsschutz: Empfehlungen für Europa
In einem „Policy Brief“ eigens für Europa bzw. die EU sprechen die Expert:innen des Lancet Countdown 3 Empfehlungen aus:
- Europaweit nationale Ernährungsstrategien entwickeln: Dabei sollte es darum gehen, Treibhausgasemissionen – angefangen bei der Lebensmittel-Produktion, bis hin zu Distribution – zu reduzieren und die Ressourcen der Erde zu schonen. Eine gesündere, pflanzenbetonte, bezahlbare Ernährung sei zu fördern.
- Bis spätestens 2030 solle die EU die Luftqualitätsnormen komplett an den aktuellen Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation und neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft ausrichten.
- Verstärkt gilt es, daran zu arbeiten, dass der Gesundheitssektor dekarbonisiert wird – indem unter anderem der Lebenszyklus von Pharmazeutika und Medizinprodukten „grüner“ gestaltet wird.
„Sabotage unserer Gesundheit“
Mit dem Pariser Klimaabkommen hat sich die Weltgemeinschaft 2015 darauf verständigt, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. „Alles andere wäre Sabotage unserer Gesundheit“, warnte kürzlich Maria Neiraa, Direktorin für Klima und öffentliche Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation. Gegenüber der Deutschen Presse Agentur (dpa) verwies sie auf 7 Millionen Todesfälle durch Luftverschmutzung, Hunderttausende Hitzetote und auf Krankenhäuser voller chronisch Kranker bei einer bisherigen Erderwärmung von etwa 1,2 Grad. Wenn das 1,5-Grad-Ziel gerissen werden sollte? „Erwarten Sie nicht, gesund zu bleiben“, sagte sie (s. Ärzteblatt). Die schlechte Nachricht: Aktuell sieht es eher nicht so aus, als könnte das noch verhindert werden. Daran hat auch die vergangene Weltklimakonferenz in Ägypten wenig geändert (s. Deutschlandfunk).
„Investitionen in den Klimaschutz sind notwendig wie nie“, erklärte jüngst der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Dessen „MacroScope Pharma Economic Policy Brief“ Ausgabe 11/22 zeige, „dass die pharmazeutische Industrie eine deutlich geringere CO2-Intensität als der industrielle Durchschnitt aufweist.“ Die Bilanz habe sich gegenüber 2010 außerdem erheblich verbessert. „Allerdings verengen sich die finanziellen Spielräume für weitere Umweltschutzanstrengungen“, heißt es. Dr. Claus Michelsen, Chefvolkswirt des vfa, erklärt: „Auf der einen Seite leiden die Unternehmen unter den horrend gestiegenen Ausgaben für Energie und Vorprodukte, auf der anderen Seite belasten jüngst verabschiedete gesetzliche Neuregelungen den Investitionsspielraum in der Pharmaindustrie.“
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