Vielleicht ist Erfolg eine der größten Herausforderungen auf den letzten Metern im Kampf gegen HIV/AIDS: „Die Therapien sind so gut, dass HIV nicht mehr sichtbar ist“, erklärte Dr. Carl Knud Schewe, Internist und HIV-Experte, auf dem vom forschenden Pharmaunternehmen Gilead Sciences unterstützten Symposium auf den 19. Münchner AIDS- und Infektiologie-Tagen. Er weiß, wovon er redet – Schewe hat sein ganzes berufliches Leben der Behandlung von Menschen mit HIV gewidmet. Er hat das große Sterben erlebt – damals Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre. Und die Zeit, als endlich Medikamente entwickelt waren, die wirklich einen Unterschied machten: „Ich habe Patienten gesehen, die sind vom Sterbebett wieder aufgestanden.“ Aber HIV bleibe eine schwere, eine bis heute nicht heilbare Erkrankung und es dürfte kaum jemanden geben, der aufgrund seiner Infektion nicht schon Stigmatisierung und Diskriminierung erfahren habe – selbst im Gesundheitssystem.
Wie stoppt man die „tödlichste Pandemie der Welt?“
Gelingt es, der „tödlichsten Pandemie der Welt“ (O-Ton UNAIDS) Einhalt zu gebieten? Im Grunde sind – von einer Impfung abgesehen – alle Instrumente vorhanden: Mit einfachen Tests lässt sich das Virus identifizieren, die modernen Therapeutika drücken es unter die Nachweisgrenze und unterbrechen Infektionsketten, sichere und wirksame Arzneimittel zur Prä- wie zur Post-Expositionsprophylaxe sind zugelassen. Aber auch Deutschland schwächelt bei den 95-95-95 Zielen, nach denen bis 2025 quasi als Zwischenetappe…
- …95 Prozent aller Menschen mit HIV von ihrem positiven Status wissen,
- …davon 95 Prozent eine antiretrovirale Therapie erhalten,
- …und davon bei wiederum 95 Prozent die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegen soll.
Nur rund 90 Prozent der betroffenen Menschen wissen hierzulande von ihrem HIV-Status. Das sind rund 9.000, die nicht behandelt werden und damit schwere gesundheitliche Schäden riskieren – und unbewusst andere anstecken können.
„Ambitionierte Ziele, ambitioniert verfehlt“
Wo also drückt der Hemmschuh? Professorin Dr. Paula Maria Bögel ist Transformationswissenschaftlerin; ihr Forschungsschwerpunkt: die Nachhaltigkeit. Sie untersucht Transformationsprozesse und wie man Knoten identifizieren und auflösen kann, die Menschen am Handeln hindern. Mit Blick auf die Klimakrise sieht sie Parallelen zum HIV-Thema: „Wir haben in beiden Bereichen ambitionierte Ziele, die wir ambitioniert verfehlen“ – auf der einen Seite das 1,5-Grad-Ziel, auf der anderen die UNAIDS-Targets. Der Schwerpunkt ihrer Forschung: „Wie kommen wir gemeinsam ins Handeln?“ Das könnten neue Allianzen sein, die sich „verbinden, um zu verändern.“ Ein Beispiel? Der gemeinsame Streiktag von Fridays for Future und der Gewerkschaft Verdi. Der gemeinsame Nenner? Eine Verkehrswende ist nur möglich, wenn der Beruf von Bus- oder Tram-Fahrer:innen attraktiv; sprich: gut bezahlt ist. Für Professorin Bögel ist deshalb ein Knackpunkt: „Wie finden wir neue Netzwerke und Allianzen? Wie finden wir neue Partner?“
Nur: Wie lassen sich die Erkenntnisse der Transformationsforschung auf HIV/AIDS übertragen?
HIV in einen größeren Kontext stellen
Auch Dr. Axel Baumgarten ist schon lange dabei – Mitte der 1990er-Jahre war er junger Assistenzarzt. Er bezeichnet sich als Optimisten. „Wir haben aus einer unheilbaren eine chronische Erkrankung gemacht.“ Aber vielleicht sei es nun an der Zeit, den „Sonderstatus HIV“ zu überdenken – und das gesamte Thema unter dem Begriff „Sexuelle Gesundheit“ in der Öffentlichkeit zu verankern. Denn Geschlechtskrankheiten sind „die unsichtbare Epidemie unserer Zeit“: Die Online-Praxis ZAVA schreibt: „Während sich die HIV-Infektionszahlen weitestgehend stabilisiert haben, ist seit Jahren ein Anstieg anderer sexuell übertragbarer Infektionen wie Syphilis, Gonorrhoe, Hepatitis B und Chlamydien in Deutschland zu beobachten. Und dies, obwohl es zu den erklärten Zielen der Vereinten Nationen gehört, die HIV-Epidemie bis 2030 zu beenden und weitere Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen.“ Die Zahlen sind so hoch wie nie. Die Einbettung von HIV in die allgemeinen Präventionsanstrengungen rund um die sexuelle Gesundheit dürfte auch ganz nach dem Geschmack von Professorin Bögel sein. Sie weiß: Will man die Menschen zum Handeln bewegen, muss man die eigene Betroffenheit deutlich machen. Und bei der sexuellen Gesundheit ist das natürlich leichter herzustellen als bei HIV, über das immer noch viele Mythen kursieren – wie zum Beispiel: „HIV? Betrifft mich nicht.“
Bei Menschen wie Martin Thiele, der Geschäftsführer bei der AIDS-Hilfe Halle ist, rennt man damit offene Türen ein. „Wir brauchen eine Normalisierung und Enttabuisierung von Sexualität. Einige AIDS-Hilfen heißen ja schon gar nicht mehr so, sondern nennen sich Zentrum für sexuelle Gesundheit oder ähnlich.“ Für seinen Kollegen Jens Ahrens, Stellvertretender Geschäftsführer der Berliner AIDS-Hilfe, ist die Normalisierung auch eine Chance, der Stigmatisierung von Menschen mit HIV entgegenzuwirken. In solchen Zentren sahen die HIV-Experten auf dem Podium der Münchner AIDS-Tage die Chance, eine niedrigschwellige, sektorenübergreifende Versorgung sicherzustellen. Denn: HIV muss raus aus der Wahrnehmungs-Nische.
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