Menschen mit seltenen Erkrankungen die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie brauchen – das ist das Ziel der Kampagne „Seltene Erkrankungen Bayern“. Foto: ©iStock.com/Alona Stanova
Menschen mit seltenen Erkrankungen die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie brauchen – das ist das Ziel der Kampagne „Seltene Erkrankungen Bayern“. Foto: ©iStock.com/Alona Stanova

Seltene Erkrankungen im Fokus der Öffentlichkeit

Menschen mit seltenen Erkrankungen die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie brauchen und verdienen – das ist das Ziel der Kampagne „Seltene Erkrankungen Bayern“, die der Bundestagsabgeordnete Erich Irlstorfer ins Leben gerufen hat. In 60 Städten und Gemeinden soll zusammen mit Selbsthilfegruppen und Patient:innen-Organisationen über die „Seltenen“ aufgeklärt werden. In Halbergmoos am Münchner Flughafen fand dazu die Auftaktveranstaltung statt. Das Thema: das Alström-Syndrom.

Alström-Was? „Davon hatte ich bisher noch nie gehört“, gab der CSU-Bundestagsabgeordnete (MdB) Erich Irlstorfer unumwunden zu. Da wird ihm klargeworden sein: Für Menschen, die eine Krankheit haben, die keiner kennt, dürfte die Versorgungslage alles andere als rosig sein. Nicht umsonst heißen Menschen mit seltenen Erkrankungen auch die Waisen des Gesundheitssystems. Deshalb die Kampagne – die Seltenen sollen in den Fokus der Öffentlichkeit. Dafür sieht Irlstorfer allein in Bayern 650.000 gute Gründe: So viele Menschen leben in dem Bundesland mit der Diagnose einer seltenen Erkrankung.

Auftaktveranstaltung mit MdB Erich Irlstorfer & Bernd Rosenbichler (links)
Auftaktveranstaltung mit MdB Erich Irlstorfer & Bernd Rosenbichler (links). Foto: Regler

Bundesweit sollen es 4 Millionen sein. Über diese Zahl schüttelt Bernd Rosenbichler nur den Kopf. Er hält 12 Millionen für weitaus realistischer. Denn wenn es um „Betroffenheit“ geht, zählt der ehemalige Automanager die Familie und Freunde mit, die sich um diese Menschen kümmern. 12 Millionen – auf die Gesamtbevölkerung gerechnet, hat in Deutschland jeder 7. direkt oder indirekt mit einer seltenen Erkrankung zu tun. Eine Krankheit gilt als selten, wenn nicht mehr als 5 pro 10.000 Menschen betroffen sind. In der Gesamtschau zeigt sich: Die Seltenen sind ein Massenphänomen – allerdings ohne die Aufmerksamkeit, die Massenphänomene ansonsten begleitet. Bernd Rosenbichler (Pharma Fakten berichtete) hat sich deshalb vor 2 Jahren neu erfunden. Er brach mit seinem Leben auf der Karriereleiter eines großen Autokonzerns und widmet sich seitdem dem Aufbau von Strukturen, damit sich bei Diagnose, Therapie und Betreuung seltener Erkrankungen endlich mehr tut. Der Grund: Sein Sohn hat das Alström-Syndrom.

Alström: Ein mutiertes Gen – mit heftigen Folgen

Nur ein einziges Gen ist für die Erkrankung verantwortlich – es heißt AMLS1. Die Folgen aber sind heftig. Hören und Sehen werden beeinträchtigt. Weil Menschen mit Alström kein Sättigungsgefühl kennen, drohen Adipositas und Folgeerkrankungen wie Diabetes und Fettleber. Es ist eine so genannte Multisystem-Erkrankung, die viele Organe betreffen kann. Wer auf Wikipedia nach Alström sucht, findet dort unter „Symptome“ 37 Einträge – von Asthma bis Muskelschwäche ist alles dabei. Rosenbichler nennt das die „Speisekarte der Hölle“. Die Chance zu Erblinden liegt bei 100 Prozent. Eine Therapie, die die Ursache bekämpfen könnte, gibt es bis heute nicht. Ein Grund: Es ist schlicht zu wenig bekannt über diese Krankheit. Und wahrscheinlich hat bisher ein Rosenbichler gefehlt, der mittlerweile weltweit unterwegs ist, um die zusammenzubringen, die auf dem Weg zu mehr Forschung an einen Tisch gehören. Er ist der Typ Manager, der sich bei einem „Das geht nicht“ erst richtig warmläuft.

Hinzu kommt: Kein Krankheitsverlauf ist wie der andere. Auch das macht eine seltene Erkrankung wie Alström zu einer schweren Belastung für Erkrankte und Familien. „Wir wissen schlicht nicht, was kommt“, sagt Rosenbichler. „Es gibt keine typische Patientenreise.“ Soll heißen: Die Betroffenen müssen lernen, mit vielen Ungewissheiten, mit Fehldiagnosen und deren Folgen umzugehen, sie erfahren oft Mobbing, müssen sich täglich um das Management ihrer Erkrankung kümmern, suchen nach Lebensperspektiven, hoffen auf neue Therapien. Und viele von ihnen haben einen langen Weg vor sich, bis sie endlich eine valide Diagnose haben.

Alström-Patientin: 20 Jahre bis zur Diagnose

Bernd Rosenbichler
Bernd Rosenbichler: Sein Sohn hat das Alström-Syndrom. Foto: privat

Im Laufe seiner Arbeit für das Alström-Syndrom hat Bernd Rosenbichler mit vielen Menschen gesprochen. Wie jene Frau, die im Jahr 2000 ihre erste Diagnose bekam – die erste falsche – und bei der es bis 2021 (!) dauerte, bis sie schließlich wusste, dass sie Alström hat. Von Retinitis Pigmentosa (Degeneration der Netzhaut), über Innenohrschwerhörigkeit und Stoffwechselerkrankung, bis zu einer Schilddrüsenunterfunktion, Fettleber und dem Verdacht einer Hörsehbehinderung – 20 Jahre lang war ihre Reise durch das Gesundheitssystem. 

Frühe Diagnosen sind aus 2 Gründen wichtig:

  • Sie ermöglichen es den Menschen, sich auf die Krankheit einzustellen. Wenn bekannt ist, dass die Sehfähigkeit abnimmt, kann mit dem Erlernen der Blindenschrift der Start in diesen neuen Lebensabschnitt erheblich erleichtert werden. Wenn bekannt ist, dass die Menschen kein Sättigungsgefühl haben, können durch geeignete Maßnahmen weitere Erkrankungen verhindert werden. Keine oder eine falsche Diagnose, da ist Bernd Rosenbichler überzeugt, nimmt den Menschen ihre Chance, sich so früh und so gut wie möglich mit den Folgen ihrer Erkrankungen auseinanderzusetzen.
  • Auch vom Standpunkt der Wissenschaft ist eine späte Diagnose schlecht. Denn das erschwert die Forschung und Entwicklung und schmälert deshalb die Chancen auf kausal wirkende Therapien. In Deutschland gibt es offiziell 25 Alström-Patient:innen. Auch diese Zahl sieht Rosenbichler kritisch. Könnte man den Schleier der Dunkelziffer lüften, wären es wohl 80 bis 320. Könnte man deren Gesundheitsdaten erfassen und analysieren, stünde ein ganz anderer Fundus zu Verfügung, um die Forschung voranzutreiben.

Arzneimittelentwicklung: Jede dritte Neueinführung ein Orphan Drug

Instagram/Alström Initiative
Mit einer Kampagne will Bernd Rosenbichler auf seltene Erkrankungen aufmerksam machen. Quelle: Instagram/Alström Initiative

Bei Therapien für Menschen mit seltenen Erkrankungen hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Jedes 3. neu eingeführte Arzneimittel ist mittlerweile ein Orphan Drug – eine Zahl, die belegt, dass in den Laboren forschender Unternehmen seltene Erkrankungen kein Nischenthema sind. Momentan sind 198 Wirkstoffe für 152 Krankheiten verfügbar. Angesichts von 7.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen gibt es allerdings noch sehr viel zu tun. In Deutschland wächst unterdessen die Sorge, dass die Entscheidungen im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, mit denen die Rahmenbedingungen für die Erstattung von Arzneimitteln gegen seltene Leiden geändert wurden, die Verfügbarkeit dringend benötigter Therapien behindern könnte (s. Orphan Drugs: Innovationsfeindlichkeit per Gesetz). So sieht das zum Beispiel die Gesundheitsministerkonferenz. Sie befürchtet, „dass sich das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz auf die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen in Deutschland nachteilig auswirken könnte. Die Reduzierung der Umsatzschwelle für Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens und die damit einhergehende Verhandlung eines Erstattungsbetrags auf Grundlage einer vollständigen Nutzenbewertung könnte die Entwicklung neuer Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen behindern.“

Bernd Rosenbichler hat in den 2 Jahren, in denen er in Sachen Alström unterwegs ist, viel erreicht. Zusammen mit der Eva Luise und Horst Köhler-Stiftung (elhks) soll jetzt sogar ein Patient:innen-Register entstehen. Für die Wissenschaft sind solche Datensammlungen ein wichtiger Fundus, um all das zu verstehen, was es braucht, um eine so komplexe Krankheit eines Tages behandeln zu können. Kampagnen wie die von MdB Irlstorfer, die von der elhks ebenfalls unterstützt wird, sorgen für das, was der Manager braucht, um seine Ziele zu erreichen: Aufmerksamkeit.

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