Trotz aller Erfolge: Bei der Forschung und Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen gibt es noch viel zu tun. Foto: ©iStock.com/Vladimir Agapov
Trotz aller Erfolge: Bei der Forschung und Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen gibt es noch viel zu tun. Foto: ©iStock.com/Vladimir Agapov

Seltene Erkrankungen: 98 Prozent nicht kausal behandelbar

Mit der „EG-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden" im Jahr 2000 wurde bei der Entwicklung so genannter Orphan Drugs ein neues Kapitel aufgeschlagen. Vor der Jahrtausendwende gab es so gut wie keine Neuentwicklungen in diesem Bereich. Heute gibt es über 200 zugelassene Arzneimittel. Und volle Pipelines.

Die Verordnung Nr. 141/2000, mit der den Entwicklern von Arzneimitteln bestimmte, zeitlich begrenzte und streng kontrollierte Anreize geboten werden, trennt die Medizingeschichte in eine Zeit, in der sich wenig bewegte, und eine Zeit, in der die Forschung kolossal beschleunigt wurde und seltene Erkrankungen immer mehr in den Fokus der forschenden Pharma-Unternehmen rückten. Ein weiterer Grund, warum die Forschungspipelines gut gefüllt sind, ist der rasante medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt. „Die Sequenzierung des Erbgutes hilft uns, Erkrankungen besser zu verstehen und personalisierte Präventions- und Therapieansätze zu entwickeln“, schreibt Stefan Schwartze, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, in der Publikation „Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2022“, die der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) und die Boston Consulting Group (BCG) jedes Jahr herausgeben.

Arzneimittel gegen die „Seltenen“ in Zahlen:

Arzneimittel gegen die „Seltenen“ in Zahlen
Orphan Drugs: rund 150 unterschiedliche Krankheiten kausal behandelbar. Foto: ©iStock.com/ismagilov
  • Rund 200 Arzneimittel sind bis heute in der EU zugelassen worden; 30 Prozent davon sind Biopharmazeutika.
  • In den Zulassungsstatistiken der vergangenen 10 Jahre ist jedes dritte Arzneimittel eines gegen eine seltene Erkrankung.
  • Damit sind rund 150 unterschiedliche Krankheiten kausal behandelbar. Das sind 2 Prozent von rund 8.000 Krankheiten, die als selten eingestuft werden: Der medizinische Bedarf ist weiterhin sehr hoch.
  • 52 Prozent davon sind nur oder auch für Kinder zugelassen.
  • Rund 2.400 experimentellen Wirkstoffen ist in Europa aktuell ein Orphan-Drug-Status zuerkannt worden. Nicht alle diese Wirkstoffe werden es bis zur Zulassung schaffen. Aber die Zahl zeigt, dass Forschung und Entwicklung auf hohem Niveau vorangetrieben werden.

Seltene Erkrankungen: Nur 2 Prozent sind kausal behandelbar

Es ist eine Medaille mit zwei Seiten: Trotz der großen Erfolge, die dazu beitragen, dass viele Menschen mit seltenen Erkrankungen am medizinischen Fortschritt teilhaben können, gilt das noch immer für 98 Prozent der „rare diseases“ nicht. Es gibt also noch viel zu tun für diejenigen, denen meist aufgrund einer genetischen Anomalie ein Leben in Gesundheit verwehrt bleibt.

Um von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA einen Orphan Drug-Status zu erhalten, gelten strenge Kriterien:

  • Die Erkrankung muss selten sein; in Europa gilt als Schwellenwert, dass 5 oder weniger auf 10.000 Menschen betroffen sein dürfen.
  • Die Erkrankung muss schwer sein – also lebensbedrohlich oder zu chronischer Invalidität führend.
  • Ein Orphan Drug muss die Behandlung verbessern oder – ist eine Behandlungsoption bereits verfügbar – einen erheblichen Zusatznutzen gegenüber dieser Therapie belegen.
AMNOG-Prozess bei Orphan Drugs
Orphan Drugs: Der „significant benefit“ wird im AMNOG-Prozess quantifiziert. Foto: ©iStock.com/ipopba

Alle neuen Arzneimittel müssen sich in Deutschland dem so genannten AMNOG-Prozess unterziehen. Der dort ggf. festgestellte Zusatznutzen gegenüber bereits verfügbaren Therapien ist Grundlage für die Preisverhandlungen zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen. Für Orphan Drugs gibt es eine Sonderregelung: Da ein hoher Nutzen („significant benefit“) unbedingte Voraussetzung für die Zulassung durch die EMA ist, wird dieser im später stattfindenden AMNOG-Prozess nur noch quantifiziert. Aufgrund dieses Verfahrens sind in Deutschland in der Regel alle Arzneimittel mit der Zulassung sofort erstattungsfähig – die Preisverhandlungen sind der Einführung nachgelagert. In vielen anderen Ländern des Kontinents kommen neue Arzneimittel trotz einer europaweiten Zulassung der EMA oft erst nach den Preisverhandlungen in die Apotheke oder das Krankenhaus.

Deutsche Regelung: Blaupause für Europa?

Nach über 20 Jahren hat die Europäische Union beschlossen, die Orphan Drug-Verordnung auf den Prüfstand zu stellen; ein Gesetzentwurf wird noch in diesem Jahr erwartet. Aus Sicht der Autoren des vfa-BCG-Reports könnte das deutsche Modell als „Blaupause für die gesamte EU“ dienen. „Denn in Deutschland funktioniert der Zugang zu Orphan Drugs für die Patient:innen besonders gut. Hierzulande sind 95 Prozent aller in der EU zugelassenen Orphan Drugs verfügbar, in Frankreich liegt dieser Anteil hingegen nur bei 72 Prozent. Auch die Zeitspanne zwischen EU-Zulassung und Verfügbarkeit für Patient:innen ist in Deutschland mit 102 Tagen europaweit am kürzesten, im europäischen Mittel beträgt sie 636 Tage.“ 

Es lohnt sich, diese Zahlen zu reflektieren: Viele Betroffene in Europa, die an einer lebensbedrohlichen oder sie stark einschränkenden Krankheit leiden, haben keinen Zugang zu Arzneimitteln, obwohl diese in der EU bereits zugelassen sind. Administrative Prozesse verhindern, dass sie behandelt werden können. Die deutsche Orphan Drug-Regelung hingegen sorgt dafür, dass dringend benötigte Arzneimittelinnovationen besonders schnell bei den Menschen ankommen. Das ist ein Markenzeichen des Gesundheitsstandortes Deutschland. Wird es auch ein Exportschlager?

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