Der Weg bis zur Diagnose einer seltenen Erkrankung kann schnell zu einer Irrfahrt durch das Gesundheitssystem werden. Nur: Einen Vorwurf kann man eigentlich niemandem machen. Für die meisten Ärzt:innen gilt schon aus statistischen Gründen, dass sie selbst in einem langen Berufsleben nur sehr selten auf eine solche Erkrankung treffen werden.
Was es nicht leichter macht: Die Symptome von seltenen Erkrankungen sind oft unspezifisch – und sie kommen eigentlich nie allein. Beispiel Alström-Syndrom: Es ist eine sehr seltene Erbkrankheit, die mit den Jahren ein komplexes Geflecht verschiedener Symptome entwickelt, die vom Stoffwechsel über das Hormonsystem geht, Leber, Herz und Nieren angreift – eine so genannte Multisystem-Erkrankung (Pharma Fakten berichtete). Aber auch die Augen sind früh betroffen, weshalb die Eltern zunächst bei Augenärzt:innen landen. Bis zur richtigen Diagnose ist da noch ein weiter Weg: Nur der richtige Gentest kann für Klarheit sorgen. Eine Therapie, die die Erkrankung ursächlich behandelt, gibt es nicht. In Deutschland ist nicht einmal genau bekannt, wie viele Menschen mit dieser Genanomalie leben. Hohe Dunkelziffern sind ein ständiger Begleiter bei seltenen Erkrankungen.
Seltene Erkrankungen: Oft sind es Multisystem-Erkrankungen
„Egal, ob eine Erkrankung häufig oder selten ist – alle Menschen haben einen Anspruch auf effektive und sichere Therapien. Daher ist es wichtig, dass Patient:innen diagnostiziert werden können und dass in der klinischen Forschung weiter die Entwicklung von spezifischen Therapien vorangetrieben wird“, sagt Nicole Schlautmann von Pfizer. Sie bekräftigt: „Die Herausforderung ist, dass die meisten dieser Erkrankungen mehr als ein Organsystem betreffen und auch innerhalb ein und derselben Erkrankung sehr variable Symptomatiken hervorrufen.“ Viele Leitsymptome einer solchen Krankheit, also die, die das größte Leiden verursachen, führen oft auf die falsche Fährte: „Beispiel Amyloidose” – eine seltene Proteinablagerung sowohl im Herzen als auch in den Nervenzellen. Oftmals werden die Patient:innen mit einer Herzinsuffizienz diagnostiziert.
Die Behandlung seltener Erkrankungen scheitert also an der richtigen Diagnose. Das Problem: Falsche Diagnosen und Therapien können neben der Tatsache, dass die eigentliche Erkrankung nicht behandelt wird, außerdem die Folge haben, dass Nebenwirkungen auftreten, die von der richtigen Diagnose zusätzlich wegführen. Es werden die Nebenwirkungen einer falschen Medikation behandelt. Das hat Folgen über das Leiden der Betroffenen hinaus. „Wir können aus diesen Gründen auch die klinische Forschung nicht so vorantreiben, wie wir das möchten, weil wir die Patient:innenbasis nicht haben. Denn wenn ich einen Wirkstoff entwickele, brauche ich eine klinische Studie mit einer gewissen Anzahl von Patient:innen. Und daher ist das Diagnose-Problem auch ein Problem für die Medikamentenentwicklung.“
Seltene Erkrankung: Erfolgreiche Behandlung nur im Team
Die Herausforderung ist es, die unterschiedlichen Symptomatiken, für die verschiedene medizinische Fachrichtungen zuständig sind, zusammenzubringen. „Das sieht das deutsche Gesundheitssystem einfach nicht vor“, sagt Nicole Schlautmann. Soll heißen: Die Seltenen passen nicht in das Raster, wie das System normalerweise mit einer Krankheit umgeht. Symptomatisch betrachtet manifestiert sich eine seltene Erkrankung oft in Form vieler unterschiedlicher Krankheiten.
Doch selbst bei einer erfolgten Diagnose gilt, dass es angesichts der verschiedenen Symptomklassen einer „Seltenen“ zwingend der engen Zusammenarbeit verschiedener Spezialist:innen bedarf. Deshalb gibt es in Deutschland mittlerweile 37 Zentren für seltene Erkrankungen, die Anlaufstelle sein können für Menschen mit ungeklärten Diagnosen. „Das ist aber in der Peripherie oft nicht verankert“, sagt Nicole Schlautmann. Soll heißen: Das Bewusstsein dafür, das sich hinter unklaren Diagnosen eine Orphan Disease verbergen könnte, steckt noch genauso in den Kinderschuhen, wie die Tatsache, dass solche Menschen am besten in einem solchen Zentrum aufgehoben wären. Denn dort ist die Erfahrung vorhanden, um solche Multisystem-Erkrankungen zu erkennen. Vielen im Gesundheitssystem ist die Existenz solcher Zentren nicht bekannt.
Hinzu kommt: Sie sind überlastet. „Einige dieser Zentren sind mit einem so großen Ansturm konfrontiert, dass man bis zu 3 Jahre auf einen Termin warten muss“, erzählt die Pfizer-Managerin. Das bedeutet: Selbst, wenn eine Verdachtsdiagnose besteht – man also eigentlich schon auf der richtigen Fährte ist – kann es sein, dass die endgültige Diagnose sich noch einmal über Jahre verzögert. Weil Kapazitäten fehlen.
Gesundheitsdaten: Der Schlüssel für bessere und schnellere Diagnosen
Um das zu ändern, stellt niemand das Gesundheitssystem auf den Kopf – da ist Nicole Schlautmann Realistin. Das muss man auch gar nicht, sagt sie. „Aber: Die wesentlich bessere Verfügbarkeit von strukturierten Gesundheitsdaten und der Zugang zu diesen zur Erstellung von Diagnose-Algorithmen wäre meiner Meinung nach die Voraussetzung für eine Revolution in der Behandlung solcher Erkrankungen“. Die Gleichung ist einfach: Je größer das Wissen über eine Krankheit, desto größer die Chance, dass sie erforscht, diagnostiziert und behandelt werden kann. Das aber wird in Deutschland noch länger dauern, denn die öffentliche Diskussion über Gesundheitsdaten ist hierzulande weniger davon geprägt, welche Chancen sich in der intelligenten Nutzung solcher Informationen für die Betroffenen eröffnen, sondern davon, welches Missbrauchspotenzial – Stichwort Datensicherheit – sich theoretisch ergeben könnte. So gedacht wird Datenschutz zum Innovationshemmnis.
„Wenn es um die Datendebatte in Deutschland geht, kann ich sehr emotional werden“, sagt Nicole Schlautmann. „Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir haben die Daten, wir haben die Künstliche Intelligenz und wir sehen, dass ein elektronisches Kaufhaus wie Amazon weiß, was ich kaufen will, bevor ich den Computer hochgefahren habe. Und wir nutzen das alles nicht, um Menschen Antworten darauf zu geben, warum ihr Kind vor ihren Augen verstirbt?“ Das von heute auf morgen zu lösen, sei aber unmöglich. Nicht nur müssen die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Es müssen auch die vielen Millionen Seiten von Patient:innen-Akten eingelesen und die entsprechende Algorithmen errechnet werden. Das dauert.
Orphan Diseases: Es muss mehr Aufklärung geben
„Darauf kann ich nicht warten“, sagt die Biologin. Deshalb will sie parallel dazu dafür sorgen, dass bei allen niedergelassenen Ärzt:innen das Bewusstsein geschärft wird, „wann sie die Patient:innen aus der Hand geben müssen.“ Dafür müsse es mehr Aufklärungsarbeit geben. Pfizer nutzt dafür zum Beispiel seinen pharmazeutischen Außendienst und hat mit der Webseite „Hilfe für mich“ einen Anlaufpunkt für Menschen geschaffen, die leiden, aber nicht wissen warum. Sie soll undiagnostizierten Patient:innen helfen, „durchs System zu kommen.“ „Hilfe für mich“ ist eine digitale Serviceplattform, die wie ein Lotse funktioniert. Außerdem engagiert sich das Unternehmen seit vielen Jahren im Rahmen des jährlich stattfindenden Tags der Seltenen Erkrankungen mit der High5-Kampagne für die 5 Prozent der Menschen in Deutschland, die an einer solchen Krankheit leiden.
Nicole Schlautmann will erreichen, dass sich die Zeit bis zur Diagnose bis 2025 halbiert. Für Menschen mit seltenen Erkrankungen und ihre Angehörigen wäre das ein Riesenschritt. Die Instrumente dazu sind eigentlich alle vorhanden.