„Eine aktive Beteiligung der Patienten ist gerade bei seltenen Erkrankungen wichtig“, betonte Moderator Prof. Christian Dierks gleich zu Beginn der Veranstaltung – und rief damit prompt den Widerspruch einer Vertreterin der Patienten-Organisationen hervor. Mirjam Mann, Geschäftsführerin der „Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen“ (ACHSE e.V.), konterte: „Es geht nicht darum, was Patienten tun müssen und welche Verantwortung sie für Diagnostik und Therapie übernehmen können. Die Frage ist doch eher: Was muss der Arzt lernen?“ Viele Haus- und Fachärzt*innen wüssten extrem wenig über die so genannten „Rare Diseases“ und die meisten Betroffenen müssten lange „kämpfen und suchen, um die richtige Diagnose zu bekommen.“ Natürlich sei es wichtig, den Patient*innen die Möglichkeit zu bieten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Aber: „Wir wollen nicht vom Arzt kompetent gemacht werden, sondern der Arzt muss erst mal selbst kompetent werden.“
8.000 seltene Erkrankungen – aber nur wenige zugelassene Therapien
Doch das ist leichter gesagt als getan. Claas Röhl, Gründer von „NF Kinder“, einer österreichischen Patientenorganisation für Menschen mit der genetischen Erkrankung „Neurofibromatose“, rechnete vor, dass es rund 8.000 seltene Erkrankungen gibt, von denen rund 94 Prozent „über keine zugelassene Therapie verfügen.“ Nicht alle Ärzt*innen könnten sich mit diesen tausenden Rare Diseases auskennen, zumal sie im Medizinstudium nur einen „kleinen Absatz im Schulungsbuch“ einnehmen würden. Aus diesem Grund brauche es einen einheitlichen, auf neuesten Erkenntnissen basierenden Zugang zu Informationen über seltene Erkrankungen. Dies könne etwa auf wissenschaftlichen Symposien geschehen, durch Netzwerke und durch Expertenzentren.
Der Auf- und Ausbau solcher Experten- und Beratungszentren für seltene Erkrankungen liegt Prof. Andreas Meisel besonders am Herzen. Der Neurologe an der Berliner Charité erklärte, dass aus solchen Zentren heraus Netzwerke mit niedergelassenen Kolleg*innen entstehen könnten, ebenso mit Patientenvertreter*innen. Vor allem aber könnten solche Beratungszentren den Patient*innen dabei helfen, schnelle und kompetente Unterstützung zu finden.
Selbsthilfe professionalisieren
Ein weiterer wichtiger Punkt, über den sich die Runde einig war: Die Selbsthilfe muss professionalisiert werden. „Es gibt immer höhere Anforderungen an die Selbsthilfe“ erklärte Dr. Jens Ulrich Rüffer, Onkologe und Vorsitzender der Deutschen Fatigue Gesellschaft, „aber diese Arbeit wird grundsätzlich ehrenamtlich gemacht.“ Kaum eine NGO komme heute noch ohne bezahlte Mitarbeitende aus, ergänzte Claas Röhl, „aber von uns wird erwartet, dass wir unsere Arbeit als Hobby betreiben – das ist ein Widerspruch, der nicht funktionieren kann.“ Logische Folge dieser mangelnden Professionalität: „Die Selbsthilfe ist in den letzten 10 bis 20 Jahren schwächer geworden“, so Andreas Meisel. Dabei seien starke Selbsthilfe-Organisationen enorm wichtig, denn sie können nicht nur Kontakte zu ärztlichen Netzwerken pflegen, sondern auch Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen.
Apropos politische Entscheidungen: Die einzige Politikerin in der Runde kündigte an, schon bald die Patientenrechte zu stärken. Martina Stamm-Fibich, Patientenbeauftragte der SPD im Bundestag, wurde dabei sehr konkret: „Wir planen eine Reform im G-BA, dem Gemeinsamen Bundesausschuss – wir werden dort ein Stimmrecht für Patienten einführen.“ Zudem soll es eine flächendeckende Einführung so genannter „Lotsen“ geben, die dabei helfen, die medizinische Versorgung zu verbessern. Stamm-Fibich räumte ein, dass es in Sachen „Gesundheitskompetenz der Bevölkerung“ noch viel zu tun gebe. Menschen mit seltenen Erkrankungen fehle es ebenso wie anderen Patient*innen an verständlichen, geprüften Informationen. Zudem fänden sie bei ihren Ärzten häufig „kein Gehör“, was nicht zuletzt an „fehlenden Anreizen im System“ liege. Anders gesagt: Ärzt*innen und Patient*innen reden zu wenig miteinander, vor allem deswegen, weil es für ausführliche Beratungsgespräche keine angemessene finanzielle Gegenleistung gibt.
3 Fragen für das Arzt-Patienten-Gespräch
Trotzdem können Patient*innen auch selbst einiges tun, um von ihren Ärzte*innen wichtige Informationen zu erhalten. So berichtete Jens Ulrich Rüffer von australischen Forschenden, die ein einfaches 3-Fragen-Modell entworfen und getestet haben. Die 3 Fragen, die alle Patient*innen ihren Ärzt*innen stellen sollten, lauten:
- Welche Behandlungsmöglichkeiten habe ich?
- Welche Vor- und Nachteile bringen sie mit sich?
- Mit welcher Wahrscheinlichkeit treten diese Vor- und Nachteile bei mir persönlich ein?
Die Wissenschaftler*innen konnten laut Rüffer zeigen, dass dieses Modell tatsächlich funktioniert und die Patient*innen sich nach dem Gespräch gut informiert fühlen. Allerdings setze Information eben Wissen voraus, insistierte Mirjam Mann, und genau daran fehle es eben oft bei seltenen Erkrankungen. „Wir haben bei Corona erlebt, dass wir ständig mit Unsicherheit umgehen mussten“, so die Patientenvertreterin, „bei Patienten mit seltenen Erkrankungen ist das immer so.“ Für die wenigsten dieser Erkrankungen gebe es Leitlinien und deshalb sei es für Ärzt*innen und Patient*innen gleichermaßen eine große Aufgabe, an Informationen zu kommen.
YouTube ist der größte Hörsaal
Der Ort, an dem viele Menschen nach solchen Informationen suchen, ist das Internet. „YouTube ist der größte Medizin-Hörsaal, den es gibt“, berichtete Dr. Tobias Gantner, Chirurg und Gründer des Innovationsnetzwerkes „Healthcare Futurists“. Er kenne Studierende, die sich lieber auf Youtube informieren, wenn ihnen eine Vorlesung zu langweilig sei. Die Schattenseite daran sei, dass es zu einer „Tiktokisierung der Welt“ komme, bei der alles in 20 Sekunden erklärt sein müsse – was bei komplexen Themen eher schwierig ist. Andererseits gebe es gerade bei Youtube auch hochwertige Informationen. Wichtig sei jedoch, „dass sie geprüft sind und qualitativen Maßstäben standhalten.“ Eine solche Prüfung von Gesundheitsinformationen nehme zum Beispiel das „Deutsche Netzwerk Gesundheitskompetenz“ vor, ergänzte Jens Ulrich Rüffer.
Abschließend konstatierte Moderator Christian Dierks: „Es gibt neben der Digitalisierung, über die wir heute gar nicht gesprochen haben, noch viele weitere Handlungsfelder.“ Nun komme es darauf an, dass „Bewegung ins Spiel kommt“, denn immerhin seien rund 3 Millionen Menschen in Deutschland von einer seltenen Erkrankung betroffen. Der virtuelle change4RARE Roundtable könnte dazu ein Anstoß sein.
Veranstalter des virtuellen Round Table „PATIENT – Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung“ am 30. März 2022 war das Unternehmen Alexion Pharma Germany GmbH: https://change4rare.com/