Fast 60 Prozent der Menschen, die einen schweren COVID-19-Verlauf erleiden, können eine Sepsis bis hin zu einem septischen Schock entwickeln. Das zeigen wissenschaftliche Studien, heißt es auf www.deutschland-erkennt-sepsis.de. Von 100 COVID-19-Infizierten „entwickeln zwei bis fünf ein Organversagen, das eine Sepsis anzeigt.“ Wie Prof. Dr. Konrad Reinhart, Vorsitzender der deutschen Sepsis-Stiftung, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärte, ist es ein großes Problem, dass viele Betroffene, „die sich mit einer unkomplizierten COVID-19-Erkrankung zu Hause kurieren wollen, nicht rechtzeitig bemerken, wenn diese in eine Sepsis übergeht“. Könnten viele Todesfälle in Folge von COVID-19 verhindert werden?
Grundsätzlich kann eine Sepsis, auch bekannt als Blutvergiftung, aus jeder Infektion entstehen – und sowohl von viralen als auch von bakteriellen Erregern, von Pilzen oder Parasiten ausgelöst werden. „Zur Sepsis kommt es dann, wenn die körpereigenen Abwehrmechanismen nicht mehr in der Lage sind, eine Infektion lokal zu begrenzen“, so Reinhart in einem Interview mit der Christoph Lohfert Stiftung. „Dann schwämmen Erreger in die Blutbahn ein“ – es kommt zu einer überschießenden Immunreaktion. „Die ist eigentlich gegen die Erreger gerichtet, schädigt auch die körpereigenen Organe.“ Das ist „eine absolut lebensbedrohliche Situation. Das Ganze endet dann meist – wie wir jetzt z.B. auch bei Corona sehen – im Multi-Organversagen und dem septischen Schock.“
Sepsis: Deutschland hinkt hinterher
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch mit einer schweren Sepsis im Krankenhaus stirbt, ist in Deutschland höher als in vielen anderen Ländern. Liegt die Quote hierzulande bei über 41 Prozent, beträgt sie in Großbritannien knapp über 32 Prozent, in den USA rund 23 Prozent und in Australien 18,5 Prozent.
In der Bundesrepublik gibt es jährlich 75.000 Sepsis-Todesfälle. Vermutlich liegt die tatsächliche Zahl höher, weil eine Blutvergiftung oft unerkannt bleibt oder nicht erfasst wird. „Mindestens 15.000 bis 20.000 durch Sepsis bedingte Todesfälle pro Jahr gelten allein in Deutschland als vermeidbar“, schreiben die Verantwortlichen der neuen Kampagne. „Dazu ist es nötig, Sepsis als lebensbedrohlichen Notfall im Bewusstsein der Menschen zu verankern, denn eine Sepsis kann in jeder Lebenssituation und jedem Lebensalter auftreten.“
„Es muss mit mindestens 15 Millionen Euro jährlich Kampagnen geben“, mit denen die Menschen in der Bundesrepublik aufgeklärt werden, „dass sie sich schützen sollen, dass sie die Frühsymptome kennen“, fordert Reinhart im Interview mit der Christoph Lohfert Stiftung. Zu den Anzeichen bei Erwachsenen und Kindern gehören Fieber, Schüttelfrost, Verwirrtheit, Herzrasen, schnelle Atmung, Schwitzen, ein starkes Unwohlsein und ein extremes Krankheitsgefühl. „Wenn mindestens zwei Sepsis-Symptome vorliegen – immer Notruf wählen“, heißt es bei „Deutschland erkennt Sepsis“. Und weiter: „Eine schnelle Behandlung ist bei Sepsis essentiell, denn mit jeder Verzögerung der Therapie steigt die Sterblichkeit.“ Betroffene erhalten Breitband-Antibiotika; außerdem gibt es kreislaufstabilisierende Maßnahmen, Infektionsherde gilt es chirurgisch zu beseitigen.
Gleichzeitig müssen die Krankenhäuser angehalten werden, „ihr Personal systematisch zu schulen, wie es in anderen Ländern Standard ist“, sagt Reinhart. In England, Australien oder den USA wird teils schon seit vielen Jahren mit sogenannten Early Warning Scores gearbeitet – sodass Pflegekräfte und Mediziner*innen eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und die lebensbedrohlichen Frühzeichen rechtzeitig erkennen. „Vor allem brauchen wir das, was man Rapid Response Systeme nennt, die in den genannten Ländern Voraussetzung für die Zertifizierung eines Krankenhauses sind.“ Während in Deutschland Reanimationsteams oft erst bei Herzstillstand – häufig Resultat einer Sepsis – ausrücken, gibt es anderswo sogenannte „Rapid Response Teams“, die dann reagieren, wenn Menschen auf Nicht-Intensivstationen Anzeichen einer Verschlechterung zeigen. Das Ziel: den Herzstillstand verhindern.
Sepsis-Vorbeugung: Impfen
Früherkennen, schnell Behandeln – das ist das A und O bei einem Sepsis-Fall. Noch besser ist es aber, wenn es gar nicht erst so weit kommt. Die beste Möglichkeit der Vorbeugung ist daher „die Verhinderung von Infektionen bzw. deren konsequente Behandlung. Besonders kleine Kinder und Menschen über 60 Jahre sollten unbedingt den Impfempfehlungen der Gesundheitsbehörden folgen“, schreiben die Kampagnen-Verantwortlichen.
„Unsere Impfzahlen in Deutschland betragen im Vergleich zu Ländern, die eine deutlich niedrigere Sepsissterblichkeit haben, nur ein Drittel“, kritisiert Reinhart. England, Australien, USA hätten zum Beispiel bei Grippe oder Pneumokokken Impfraten von „um die 80 Prozent. Wir haben Impfraten gegen diese beiden Erreger, die im Bereich um dreißig Prozent und darunter liegen.“ Und wie viele Menschen sich zum Schutz vor COVID-19 impfen lassen, wird sich erst noch zeigen.
Insgesamt handele es sich um ein „multifaktorielles Geschehen“, das die relativ hohe Sepsissterblichkeit in Deutschland begründet. Reinhart kritisiert so etwa auch die Trägheit des hiesigen Gesundheitssystems. Seit 2013 fordern Expert*innen von Sepsis Stiftung, von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie und vielen weiteren Organisationen einen nationalen Sepsisplan, damit das Thema auf bundespolitische Ebene gehoben wird. „Die Verantwortung, die die Politik hervorragend wahrnimmt im Zusammenhang mit Covid-19, muss sie in gleicher Weise wahrnehmen im Zusammenhang mit der alltäglichen Sepsis“, so Reinhart.