
Von der Spanischen Grippe dürfte mittlerweile jeder gehört haben. Sie wütete 1918 – und in einer zweiten Welle noch einmal 1920 – und gilt als die schlimmste bisher registrierte Pandemie. Für rund 50 Millionen Tote soll das Virus verantwortlich sein – manche sprechen von doppelt so vielen. H1N1 hieß der Krankheitserreger – und der hatte es leicht: Der erste Weltkrieg war vorbei, die Menschen ausgemergelt, die Gesundheitssysteme – oder was man damals dafürhielt – am Boden. Den Rest besorgten die heimkehrenden Soldaten: Anfang des 20. Jahrhunderts brauchte es keinen Massentourismus, um das Virus weltweit zu verbreiten. Truppentransporte reichten völlig aus.
Lernen aus der Pandemie von 1918
Der Wissenschaftler und Pandemieexperte Professor Robert J. Hatchett hat weltweite Epidemien eingehend studiert. Für die 1918er-Pandemie hat er in einer Studie die von 17 US-Städten getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungsraten mit den jeweiligen Fallzahlen übereinandergelegt (s. Grafik). Besonders lehrreich: der Vergleich zwischen Philadelphia ganz im Osten des Landes und St. Louis in Missouri.
In Philadelphia registrierte man den ersten Fall am 17. September 1918. Doch bis Maßnahmen zur Reduzierung von Kontakten ergriffen und umgesetzt wurden, vergingen zweieinhalb Wochen – schließlich war es den Stadtoberen noch wichtig, Ende September die Liberty-Loan-Parade durchzuziehen, ein patriotisches Massenspektakel: „A great day for Philadelphia“ schrieb die Presse damals. In der Rückblende war es zumindest ein historischer Tag: 200.000 Menschen fluteten die Innenstadt. Es wurde eine Masseninfektion – 4.500 Bürger der Stadt starben später an dem Virus.
Ein Health Commissioner greift durch
Den Menschen in St. Louis erging es besser. Das verdanken sie Health Commissioner Dr. Max C. Starkloff. Ihm war klar, was auf die Stadt zukam; er war es, der den Bürgermeister auf einen radikalen Kurs des „social distancing“ einschwor. Am 5. Oktober 1918 registrierte man in einer Familie die wohl ersten sieben Fälle in der Stadt, am nächsten Tag waren es bereits fünfzig. Ab 7. Oktober dann der Shut-down: Theater, Kinos und Kirchen geschlossen, die Schulen folgten einen Tag später. Die Liberty-Loan-Parade? Abgesagt. Die Maßnahmen kamen keinen Tag zu früh: Im Rückblick gilt St. Louis als Modellstadt – die Übersterblichkeit als Folge der Influenza-Infektion war eine der niedrigsten im ganzen Land.

Mit der Untersuchung konnte Hatchett zeigen, „dass eine frühe und umfangreiche Implementierung kontaktreduzierender Maßnahmen während des Ausbruchs der Spanischen Grippe zu einer signifikanten Verringerung der Letalitätsrate um etwa 50 Prozent geführt hat“, wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Gutachten „Die gesamtwirtschaftliche Lage angesichts der Corona-Pandemie“ schreibt.
Mit Blick in die Geschichtsbücher der vergangenen Pandemien stellt er fest: „Kontaktreduzierende Maßnahmen gingen in der Vergangenheit mit der Verlangsamung von Erkrankungswellen einher.“
Denn unabhängig davon, ob man die Ausbreitung des Virus verhindern (Suppression) oder den Verlauf der Krankheitsdynamik verlangsamen will (Mitigation), um Gesundheitssysteme vor dem Kollaps zu bewahren: Das aus epidemiologischer Sicht wirksamste Mittel ist es Kitas, Schulen und Universitäten zu schließen, Großveranstaltungen zu unter- und Versammlungsverbote zu erlassen; kurz: alle nicht unbedingt notwendigen zwischenmenschlichen Kontakte zu reduzieren.
Oder mit Blick auf Philadelphia zusammengefasst: Eine Parade mit 200.000 Menschen ist, wenn ein Virus grassiert, eine der schlechtesten Ideen, die man haben kann.
Pandemie-Experte Hatchett selbst warnt davor, das Coronavirus zu unterschätzen. Im britischen TV-Sender Channel 4 sagte er: „Das ist die beängstigendste Erkrankung, die ich in meiner Karriere gesehen habe – und das schließt Ebola, Mers und Sars mit ein. Sie ist angsteinflößend wegen der Kombination aus hoher Ansteckungsgefahr und einer Letalität, die um ein Vielfaches höher zu sein scheint als die Grippe.“