HIV, Alzheimer, Hepatitis C oder Mukoviszidose: Diese Krankheiten haben eines gemeinsam. Der Weg über eine wirksame Behandlung oder Heilung führt nur über die Apotheke. Erst durch wirksame und sichere Arzneimittel verlieren sie ihren Schrecken. Oder Masern, Hepatitis B, SARS-CoV-2 oder das nächste pandemische Virus: Auch sie haben einen gemeinsamen Nenner. Nur per Impfstoff wird es gelingen, diese Erreger im Zaum zu halten. Sollte es sich SARS-CoV-2 als ein ständiger Begleiter des Menschen bequem machen, garantieren uns nur Impfstoffe, dass wir ein normales Leben führen können.
Pharma-Forschung: „Noch verdammt viel zu tun.“
„Es gibt noch so verdammt viel zu tun“ – das hat der Chef des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), Han Steutel, einmal gesagt. In der Tat: Die Arbeit dürfte den Forscher:innen nicht ausgehen. Die Liste der Krankheiten, die noch gar nicht oder nicht zufriedenstellend zu behandeln sind, ist lang. Wir haben ein großes Interesse daran, dass sie abgearbeitet wird. Das ist die eine Seite.
Dem steht auf der anderen Seite ein wissenschaftlicher Erkenntnis-Boom gegenüber. Es dürfte nicht übertrieben sein, wenn man formuliert: Noch nie war so viel möglich. Forschung ist die beste Medizin (O-Ton vfa). In den Tiefen der Wissenschaft finden wir die Antworten auf die medizinischen Fragezeichen von heute. Nur dort. Auch das hat uns die Pandemie gezeigt.
Klingt banal. Ist es aber nicht. Auch das zeigen die oben genannten Krankheiten. HIV? Viele Jahre hat es gedauert, bis das Virus eingedämmt werden konnte. Heilung? Noch Fehlanzeige (s. Pharma Fakten). Alzheimer: An der Krankheit des Vergessens beißen sich Wissenschaftler:innen seit Jahrzehnten die Zähne aus. Sollte im Sommer in den USA ein Wirkstoffkandidat grünes Licht bekommen, wäre es das erste verlaufsmodifizierende Arzneimittel zur Behandlung im frühen Krankheitsstadium überhaupt. Ein Meilenstein, aber noch lange nicht das Ende der Erkrankung. Die Forschung muss weitergehen (Pharma Fakten berichtete).
Krebs in Deutschland: Jede Minute eine neue Diagnose
Oder Krebs? Was Onkolog:innen heute erreichen können, davon hätten sie – aber vor allem die Betroffenen – vor wenigen Jahren nur geträumt. Aber sollte man sich deshalb zurücklehnen? Die forschende Pharmaindustrie hat Krebs ganz oben auf der Forschungsagenda (Pharma Fakten berichtete): Zum Glück, denn es ist die zweithäufigste Todesursache. In Deutschland erhält jede Minute ein Mensch eine Krebsdiagnose. Jede Minute. Wenn Sie diesen Artikel bis zum Ende gelesen haben, werden es also wahrscheinlich sechs mehr sein.
Die forschende Pharmaindustrie hat eine Vision: Mit der Entwicklung von innovativen Therapien, personalisierter Medizin und Impfstoffen will sie Krankheiten verhindern, behandeln, heilen – für eine bessere Lebensqualität von Menschen weltweit, für gesundes Altern, eine gesunde Gesellschaft und eine robuste Wirtschaft. Und ja, sie will damit Geld verdienen.
Korrektur: Sie muss damit Geld verdienen. Denn die 36 Milliarden Euro, die die Industrie allein in Europa pro Jahr in die Forschung investiert, müssen irgendwoher kommen (Zahlen von 2018). Pharma ist – gemessen am Umsatz – die Branche mit dem mit Abstand höchsten Anteil an Forschungsausgaben: Dafür beschäftigt sie eine Armada der klügsten Köpfe weltweit, führt tausende klinische Studien durch, füllt Pipelines im Kampf gegen Erkrankungen und lässt den Innovationsstandort glänzen. Und ja, auch bei den Margen rangiert Pharma oben – wenn auch nicht mit einem so deutlichen Vorsprung, wie bei den Forschungsausgaben. Das ist Ausdruck der besonderen Risiken, die mit dem Geschäftsmodell verbunden sind.
Denn auch das scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Viele Pharmaentwickler haben ihre Forschungen an COVID-Impfstoffen einstellen müssen – einfach, weil es nicht funktioniert hat: Hoffnungen geplatzt, Geld weg. Auch von den tausenden Forschungsprojekten, die nach einer wirksamen Arzneimitteltherapie gegen COVID-19 suchen, werden es nur sehr wenige bis zur Zulassung schaffen: Der Innovationskreislauf der pharmazeutischen Industrie ist kein Selbstläufer.
Kein Selbstläufer: Der Innovationskreislauf der pharmazeutischen Industrie
Aber wir haben alle ein Interesse daran, dass er funktioniert. Denn es geht um immer bessere und gezieltere Therapien. Es geht um Vermeidung von Krankheiten, um Impulse für den Innovations- und Medizinstandort, um Verbesserung der Versorgung, um hochwertige, krisenfeste Arbeitsplätze; kurz: um Zukunftsfähigkeit. Einer der Motoren dieses Kreislaufes sind Patente: Der Schutz des geistigen Eigentums ist wahrscheinlich eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Denn er hat Fortschritt erst möglich gemacht. Ist irgendjemand da draußen, der nicht will, dass an der ultimativen Krebstherapie geforscht wird? Die Pharmabranche ist – zusammen mit den Playern in Forschung und Wissenschaft – zur Innovation verdammt.
Nun also die Diskussion über das temporäre Aufheben von Patenten. Von allen Lehren, die die Pandemie für uns bereithält, ist das ungefähr die Einzige, die man nicht ziehen kann (lesenswert dazu der Blog von Derek Lowe). Denn das System funktioniert. Warum sollten Unternehmer:innen darüber nachdenken, einen Impfstoff oder ein Arzneimittel zu entwickeln, wenn sie im Hinterkopf haben, dass sie gar nicht darüber entscheiden können, ob und wieviel Geld sie damit verdienen? Die wahren Kosten einer frühen Freigabe von Patenten dürften die kranken Menschen von morgen bezahlen – einfach, weil es weniger Innovationen geben wird.
Aber das eigentlich entscheidende ist: Es wird durch diese Maßnahmen in nächster Zeit nicht eine einzige zusätzliche Dosis entstehen. Alles, was auf diesem Planeten das Knowhow hat, Impfstoffe herzustellen und nicht bei drei auf den Bäumen ist, produziert Impfstoffe. Oder die Ausgangsstoffe. Oder die entsprechenden Ampullen. Fachleute regnet es nicht vom Himmel. Impfstofffabriken schon gar nicht. Im Grunde ist das Thema auch ein anderes: Es heißt internationale Solidarität. Das aber muss politisch gelöst werden – und nicht auf dem Rücken von Unternehmen. Bemerkenswerterweise schicken wir Sauerstoff nach Indien – und nicht Impfstoffe.
Patent-Diskussion: Pure Zeitverschwendung
Die Diskussion um die Patente ist pure Zeitverschwendung. Sie lenkt davon ab, was wir eigentlich tun sollten. Denn die Pandemie hat uns gezeigt, was möglich ist, wenn alle an einem Strang ziehen und der berühmte „Sense of Urgency“ gegeben ist. Plötzlich geht alles sehr schnell, was sonst Monate oder Jahre dauert. Wissenschaftliche Forschungsinstitute und Universitätskliniken rotieren im roten Bereich und in den Laboren der forschenden Pharmaunternehmen sind die Lichter seitdem nicht mehr ausgegangen. Hinzu kommt, dass alles auf Kooperation geeicht ist. Denn die Erkenntnis ist: Wir haben alles, nur keine Zeit. Deshalb ist Kooperation – nicht Konkurrenz – das neue Normal.
Warum das funktioniert? Weil alles auf ein Ziel ausgerichtet ist.
Auch die Zulassungsbehörden sind zur Höchstform aufgelaufen – anders hätte es weder so schnell erste zugelassene Therapien gegeben noch die Impfstoffe. Aber warum wollen wir diese Fortschritte nicht auch in anderen Bereichen? Auch Krebs ist im Grunde eine Pandemie. Oder Alzheimer. Oder HIV. Zumindest sind es Krankheiten, die epidemische Ausmaße haben. Auch diese Patient:innen haben keine Zeit. Warum übertragen wir den pandemischen „Sense of Urgency“ nicht auch auf andere Erkrankungen? Dafür müssen wir nur die politischen Weichen stellen, die Zulassungsbehörden massiv aufrüsten und dem Innovationskreislauf – nicht nur der Industrie – freien Lauf lassen.
Das wäre eine sinnstiftende Lehre aus der Pandemie. Die Diskussion über Patente ist es nicht.
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