Was haben wir schon alles versucht. Appelle an das soziale Gewissen („Herdenimmunität!“), Kampagnen mit professoraler Strenge, auf Basis von Angstszenarien oder mit Witz („Deutschland sucht den Impfpass“). Aber immer noch verpasst Deutschland wesentliche Impfziele. Auch weltweit scheint die Menschheit hinter bereits Erreichtes zurückzufallen. Die WHO zählt „vaccine hesitancy“, also die Impfskepsis, zu den „Zehn Bedrohungen für die globale Gesundheit“, gleich neben Antibiotika-Resistenzen oder Luftverschmutzung. Das tut sie nicht, weil die Behörde bestimmte Menschengruppen diffamieren will, sondern weil Falschbehauptungen kursieren, die Menschen verunsichern und die die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte bei der Ausrottung oder Eindämmung impfpräventabler Erkrankungen gefährden: Menschen erkranken oder sterben, weil Fehlinformationen kursieren und mit Gusto verbreitet werden. Ist ja so einfach geworden – Social Media lässt grüßen.
Virus meets Vernetzung: Die Pandemie ist auch eine Infodemie
Und nun also SARS-CoV-2. Es ist nicht die erste Pandemie, unter der Menschen leiden. Aber es ist sicher die erste, die auf eine derart vernetzte Gesellschaft trifft. Das hat sicher auch Vorteile. Ob es dem Impfgedanken letztlich helfen wird, ist aber noch nicht entschieden – und eher zweifelhaft. Auf die Frage, ob man sich impfen lassen würde, sollte ein Pandemie-Impfstoff zur Verfügung stehen, gibt es kein klares Bild: Die Zustimmungsraten steigen und fallen mit der gefühlten Bedrohungslage. Denn die Pandemie ist auch eine Infodemie: Fehlinformationen verbreiten sich schneller als das Virus, stellte die WHO trocken fest. Sicher könnte man versuchen, es diplomatischer zu formulieren, aber es gibt auf der nach oben offenen Schwachsinns-Skala nichts mehr, was es nicht gibt.
Das Problem ist: Verschwörungsmythen machen etwas mit uns – ob wir wollen oder nicht. „Wir wissen aus Studien, dass jemand, der mit einer Impfverschwörung konfrontiert wurde, nachher weniger bereit ist, das eigene Kind impfen zu lassen“, erzählt die Sozialpsychologin Pia Lamberty (ihr Buch „Fake Facts“ ist im Sommer erschienen). Verunsicherung ist halt ein schlechter Berater.
Impfungen: Das beste Training
Dabei kann man gegen das Impfen eigentlich gar nicht sein. Eine medizinische Erfindung, die Krankheiten verhindert, bevor sie entstehen, und deshalb unter anderem viele Millionen gerettete Leben auf der Haben-Seite verbucht – warum sollte man etwas dagegen haben? „Mit das beste Training, das Sie jemals erhalten haben, sind die Impfungen, die Sie als Kind verabreicht bekamen“, schreibt der in Oxford forschende deutsche Wissenschaftler Max Roser. „Ohne es überhaupt zu merken, haben Sie gelernt, Pathogene zu bekämpfen, die die Leben unserer Vorfahren über viele Jahrhunderte zerstört haben.“ Aber es ist wohl auch ein wenig Zeitgeist: Gegen Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise kann man ja eigentlich auch nicht sein. Selbst wenn die ausfallen würde – was die Fakten leider nicht hergeben – hätte man sich für mehr Natur und Artenvielfalt, für sauberere Luft und ein Mehr an Gesundheit eingesetzt.
Die zunehmende Wissenschafts-Skepsis macht es nicht einfacher. Ohne die Wissenschaft wären wir zwar nie auch nur in die Nähe gekommen, wo wir heute stehen. Aber es erinnert sich halt niemand mehr an die Trauer jener Menschen, die vor Einführung des ersten Masernimpfstoffes im Jahr 1963 ihre Liebsten verloren haben – im Schnitt waren es jährlich 2,6 Millionen Menschen (!) weltweit. Einfacher noch: Man deklariert solche Fakten einfach als Erfindung. Es ist unheimlich hip geworden, alles, was nicht (mehr) ins Weltbild passt, als Fake News zu diffamieren.
Tatsache ist: Will man „das Impfen“ voranbringen, muss man an so vielen Stellschrauben drehen, dass einem schwindelig wird. Doch wer glaubt, dass die zigste Neuauflage einer Impfkampagne etwas entscheidend ändern würde, hat aus der Vergangenheit wenig gelernt. Nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen gut gemachte, kluge Kampagnen – ganz im Gegenteil. Man braucht sie allein schon, um die zu stützen, die von der Flut von (Fehl-)Informationen erschlagen werden – als kommunikatives Gegengewicht. Aber sie allein reichen halt nicht. Abgesehen davon, dass es schwer ist, Menschen von einer Impfung zu überzeugen, wenn die Impfraten unter Ärzten und Pflegekräften selbst niedrig bleiben. Denn die haben natürlich eine Vorbildfunktion.
Eine konstruktive Impfpolitik: Bisher nur Flickwerk
Die zahlreichen Versuche, den Impfgedanken voranzubringen, sind ehrenwert, aber letztlich Flickwerk. Es herrscht in Deutschland sowohl auf gesundheitspolitischer Ebene als auch im Gesundheitswesen selbst eine merkwürdige Dissonanz zwischen der Einsicht in die Kraft von Impfungen, der vorhandenen Evidenz und der – mäßigen – Power, mit der man hohe Impfquoten erreichen will. Platter ausgedrückt: Das Impfen, die Krankheitsvermeidung, die Prävention – sie müssen herunter vom Altar der Sonntagsreden und klares politisches Handlungsziel werden.
Mir fehlt das klare, laut vernehmbare Bekenntnis zum Impfen. Es ist gut, dass es ein Präventionsgesetz oder einen Nationalen Impfplan gibt – aber das Impfen muss gelebt und vorgelebt werden.
Nun gewinnt man mit dem Vorschlag eines Runden Tisches nicht gerade einen Kreativ-Award. Aber hier ist er fällig. Seine Aufgabe: Systematisch alle Hürden, die einer besseren Akzeptanz von Impfungen im Wege stehen, zu identifizieren und auszuradieren. Denn von denen gibt es so viele, dass das hier nur eine Auswahl sein kann:
- Wir bezahlen Ärztinnen und Ärzten zu wenig für die Beratung und das Impfen. Und auch die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Impfstoffe (2019: < 1% der GKV-Gesamtausgaben stehen in einem merkwürdigen Zusammenhang zu dem Impact, den impfpräventable Erkrankungen und ihre Behandlung haben.)
- Wir bieten zu wenig Impfgelegenheiten – denn wenn der Mensch nicht zur Impfung kommt, sollte dann die Impfung nicht zum Menschen kommen? Pilotprojekte wie die Grippeschutzimpfung in Apotheken sind schon mal ein Schritt, aber weitere müssen folgen. In Australien gibt es Impfprogramme gegen das u. a. Gebärmutterhalskrebs auslösende HP-Virus. Das Land ist gerade dabei, Gebärmutterhalskrebs „als Problem der öffentlichen Gesundheit“ zu eliminieren. Wo sind solche landesweiten Programme in Deutschland, wo die wissenschaftlichen Grundlagen für die Vakzine geschaffen wurden?
- Es muss viel einfacher werden, sich impfen zu lassen – unser Impfsystem hat den gesellschaftlichen Wandel nicht mitgemacht, in dem beide Elternteile berufstätig sind und bereits Jugendliche volle „Terminkalender“ haben.
- Insgesamt muss das Thema Prävention prominenter auf die gesamtgesellschaftliche Agenda. Es ist schön, dass wir alle immer älter werden. Mindestens genauso wichtig ist aber, dass wir alle möglichst gesund älter werden.
Wie gesagt: eine sehr unvollständige Aufzählung. An diesem Runden Tisch müssen übrigens auch die Entwickler und Hersteller von Impfstoffen Platz nehmen. Nicht nur, weil sie echte Impfexperten sind. Sondern weil es nichts nützt, wenn man die Quoten bestimmter Vakzine pushen will, ohne zu klären, ob am Ende ausreichend Dosen zur Verfügung stehen. Deshalb sind Impfziele so wichtig. Sie geben die Chance auf Planungssicherheit.
Impfungen: Wir müssen ambitionierter werden
In der Onkologie haben sich führende Krebsärzte und -wissenschaftler sowie Gesundheitsexperten zur „Vision Zero 2020“ zusammengeschlossen. Das Konzept, bekannt aus dem Straßenverkehr und dem Arbeitsschutz, arbeitet mit dem Credo: Jeder Krebstote ist einer zu viel. Es ist ein ambitioniertes Projekt: Sie wollen „jeden Stein“ umdrehen, um die Prävention, Behandlung von und Forschung an Krebs voranzubringen. Sie wollen Faktoren identifizieren, die uns daran hindern, in Sachen Krebsbekämpfung besser zu werden. Denn eines ist sicher: Wir laufen den Möglichkeiten hinterher, die uns moderne Präventions- und Behandlungsmethoden heute schon bieten, die aber nicht konsequent angewandt werden.
Warum also nicht eine Vision Zero für impfpräventable Erkrankungen? Mit der Ambition, „jeden Stein“ umzudrehen, der uns daran hindert, Krankheiten und deren Komplikationen zu vermeiden, bevor sie entstehen?
Jeder Einzelne ist gefragt
Eines noch: Nach der Politik schreien kann man immer – ist ja auch herrlich einfach – aber am Ende des Tages muss sich jeder von uns fragen, ob er/sie genug tut: für uns, für unsere Gesundheit, für die Gesundheit von denen, die unseren Schutz brauchen – etwa, weil sie schon älter sind oder zu jung, um geimpft zu werden, oder an chronischen Krankheiten leiden. Und es ist am Ende auch eine Frage unserer aller Zivilcourage, ob wir Facebook, Twitter und Co. denen überlassen, die sich weigern, die Konsequenz zu akzeptieren, dass sie mit Falschinformationen dazu beitragen, dass Menschen krank werden. Oder sterben.
Jeder Einzelne ist gefragt. „It starts with the man in the mirror”, hat Michael Jackson gesungen. Das gilt auch fürs Impfen.
Der Text ist der zweite Teil des Dossiers Impfgegner-Verweigerer der Agentur KOMM.PASSION. In Teil 1 Immun gegen Impfen? Eine Milieustudie beantwortet KOMM.PASSION-Geschäftsführerin Jelena Mirkovic die Frage: „Wer sind diese Leute, die scheinbar immun gegen Impfungen sind?“ Außerdem ist ein Podcast Teil des Dossiers. Dort diskutiert Jelena Mirkovic mit dem Arzt und Medizinischen Direktor bei MSD Sharp & Dohme, Dr. Klaus Schlüter, darüber, wie man Impfgegner erreichen kann.
Jeder Einzelne ist gefragt. „It starts with the man in the mirror”, hat Michael Jackson gesungen. Das gilt auch fürs Impfen.
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