Welche Lehren lassen sich aus der Coronakrise für den Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland und Europa ziehen? Über diese Frage diskutierte eine Expertenrunde beim 19. Europäischen Gesundheitskongress. Credit: WISO
Welche Lehren lassen sich aus der Coronakrise für den Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland und Europa ziehen? Über diese Frage diskutierte eine Expertenrunde beim 19. Europäischen Gesundheitskongress. Credit: WISO

Forschung und Innovationen: Lehren aus der Coronakrise

Der 19. Europäische Gesundheitskongress in München fand wegen des Coronavirus in diesem Jahr in digitaler Form statt. Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Mut zur Zukunft“ – und dazu gehörte auch die Frage, welche wichtigen Lehren der Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland und Europa aus der Coronakrise ziehen sollte.
Prof. Angelika Niebler. © angelika-niebler.de
Prof. Angelika Niebler. © angelika-niebler.de

„Alle politischen Ebenen müssen zusammenarbeiten“, forderte Prof. Angelika Niebler, die für die CSU im Europaparlament vertreten ist und dort im Ausschuss „Industrie, Forschung, Energie“ mitarbeitet. Auf EU-Ebene sieht sie vor allem eine Maßnahme, die Europa als Forschungs- und Produktionsstandort stärken kann: „Investieren, investieren, investieren.“ Nach ihren Angaben will die EU in den kommenden Jahren kräftig in die Zukunft des Gesundheitsbereiches investieren, insbesondere in den Kampf gegen Krebs. Doch Geld allein sei nicht alles: „Wir müssen auch hinterfragen: Stimmen unsere Rahmenbedingungen?“ So müsse man sich etwa bei der 2018 eingeführten Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) durchaus fragen, „ob wir den Datenschutz zu eng gefasst haben und durch zu strenge Regelungen verhindern, dass wir Datenpools für die wissenschaftliche Forschung nutzen können.“ Niebler setzt sich für einen „europäischen Datenpool“ ein, ebenso für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Gesundheitssystem: „Zu sehr ein Reparaturbetrieb“

Doch nicht nur die Forschung ist wichtig, sondern auch die Produktion und damit verbunden eine stabile Lieferkette. „Wir müssen uns in Europa stabiler aufstellen“, erklärte Niebler und stellte zugleich klar: „Damit meine ich nicht die Rückkehr zu Nationalstaaten, sondern eine Verteilung auf verschiedene Standorte.“ Damit möglichst viele davon in Europa liegen, sei es wichtig, „zu entbürokratisieren und gute Standortbedingungen zu schaffen.“ Europa habe während der Pandemie viel geleistet und zum Beispiel „14 Milliarden Euro gehebelt, um die Impfstoff-Entwicklung anzukurbeln.“ Europa sei nicht perfekt und bei 27 Mitgliedsstaaten sei es nicht einfach, gemeinsame Lösungen zu finden. Aber: „Wir machen es nicht so schlecht, wenn ich mir ansehe, wie schwer sich unsere 16 Ministerpräsidenten in Deutschland bei einer gemeinsamen Corona-Strategie tun.“

Prof. Christof von Kalle. © Peitz / Charité
Prof. Christof von Kalle. © Peitz / Charité

Prof. Christof von Kalle, Leiter des Klinischen Studienzentrums am Institut of Health (BIH) und der Charité-Universitätsmedizin in Berlin, plädierte dafür, Forschungskooperationen zwischen der akademischen und der industriellen Seite zu fördern. Ihm gefällt außerdem die „Vision Zero“, die darauf abzielt, Erkrankungen so weit wie möglich zu vermeiden und Todesfälle zu verhindern. „Wir sind zu sehr ein Reparaturbetrieb, der alles über einen Kamm schert“, so von Kalle, dabei gehöre insbesondere in der Onkologie die Zukunft der individualisierten Präzisionsmedizin. Und: „Wir brauchen ein patientenzentriertes Gesundheitsdatenmanagement, wobei die Patienten entscheiden, wem sie den Schlüssel zu ihren Daten aushändigen.“

Schulterschluss mit der industriellen Forschung

„Wir sollten Corona auch als Chance begreifen“, erklärte Bernhard Seidenath, im Bayerischen Landtag Vorsitzender des Gesundheits- und Pflegeausschusses. Der CSU-Politiker ist davon überzeugt: „Die Gesundheits- und Pflegewirtschaft hat das Zeug, zur Leitökonomie des 21. Jahrhunderts zu werden.“ Wie seine Parteifreundin Angelika Niebler setzt sich auch Seidenath dafür ein, die Produktion wichtiger Arzneimittel aus China oder Indien zurück nach Europa zu holen. Mindestens ebenso wichtig sei es aber, die Forschung hierzulande zu stärken, weshalb der Freistaat Bayern in den kommenden beiden Jahren 900 Millionen Euro zusätzlich investieren werde, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Bayern schafft unter anderem neue Professorenstellen für gesundheitliche Hightech-Forscher und fördert ein Zentrum für digitale Pflege in Kempten, ebenso das „Medical Valley“ in Erlangen. Darüber hinaus sucht der Freistaat nach Seidenaths Worten „einen engen Schulterschluss mit der industriellen Forschung“: Dies habe sich nicht zuletzt beim „Pharmagipfel Bayern“ gezeigt, bei dem es um die Zukunft des Pharmastandortes Bayern ging.

Innovationen beschleunigen

Moderator Wolfgang van den Bergh, Chefredakteur der Ärzte Zeitung, lenkte die Diskussion nach den Impulsvorträgen auf ein „Aha-Erlebnis“, das die Corona-Pandemie ausgelöst habe: „Wir haben immer gedacht, Innovation kostet viel Zeit – aber bei der Suche nach einem COVID-19-Impfstoff wurden bestimmte Prozesse sehr beschleunigt. Könnte das auch noch ein Vorbild sein, wenn wir eines Tages zur Normalität zurückkehren?“

„Auf jeden Fall“, erwiderte Prof. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), „in der Krise wurden regulatorische Prozesse erheblich beschleunigt.“ Das könne auch in Zukunft so sein, wenn man, wie im Falle von COVID-19, frühzeitig mit den Entwicklern zusammenarbeite. So müsse man mit dem Start eines Zulassungsverfahrens nicht unbedingt warten „bis der letzte Datensatz da ist“, sondern könne Klinische Daten analysieren und bewerten, sobald sie vorlägen. Broich weiter: „Das könnte ein Ansatz für die Zukunft bei allen Produkten sein, bei denen ein hoher Medical Need vorhanden ist“ – also eine hohe medizinische Dringlichkeit.

Sabine Nikolaus. © Boehringer Ingelheim
Sabine Nikolaus. © Boehringer Ingelheim

Sabine Nikolaus, Vorsitzende und Landesleiterin Deutschland bei Boehringer Ingelheim, betonte, die Pandemie habe „Netzwerke stärker forciert als je zuvor“ – allerdings basiere die Arzneimittel-Forschung ihres Unternehmens schon sehr lange auf internationalen Kooperationen. „Wir können nicht nur national forschen, internationale Kooperationen sind unabdingbar“, erklärte Nikolaus, „wir haben gute Leute, wir haben Partnerschaften, das ist die Grundlage“.

Damit man auf dieser Grundlage aufbauen könne, müsse Forschung allerdings auch gefördert werden. „Bei der Forschungsförderung ist Deutschland noch nicht da, wo zum Beispiel Frankreich oder Österreich sind“, so Nikolaus weiter.

Ähnliches gelte, wenn es um den Produktionsstandort Deutschland gehe: „Wenn wir mit Produktionsstätten in Asien konkurrieren wollen, dann wird das nicht funktionieren, ohne Anreize zu schaffen.“ Das könnten Preisanreize sein, aber zum Beispiel auch Verträge der forschenden Arzneimittelindustrie mit den Krankenkassen.

Wo Deutschland mehr tun könnte

Han Steutel. © vfa / B. Brundert
Han Steutel. © vfa / B. Brundert

„Wir müssen realisieren, dass die Welt sich immer schneller dreht“, mahnte Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa). Bei Biopharmazeutika, in der Zell- und Gentherapie, auf all diesen Feldern gebe es rasante Entwicklungen, zu denen Deutschland zu wenig beitrage, „vor allem in der Klinischen Forschung.“ Karl Broich pflichtete ihm bei: „Wir müssen tatsächlich schneller und offener werden, was neue Ansätze angeht.“ Christof von Kalle verwies darauf, dass es auch positive Beispiele gebe: „Zwei Impfstoff-Kandidaten gegen Corona werden von Firmen entwickelt, die in Deutschland ansässig sind“ – wobei diese Erfolge privatem Engagement zu verdanken seien. 

Kalle bedauerte, dass es „in Deutschland kaum Infrastruktur zur Finanzierung klinischer Studien gibt. Wir sollten das Geld für solche Studien nicht als Kosten ansehen, sondern als Investition. Als Investition in eine bessere Zukunft.“ 

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