Vom 18. bis 24. November begeht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „World Antimicrobial Awareness Week 2020“: „Verbündet euch, um Arzneimittelresistenzen zu verhindern“, lautet die Aufforderung. „Resistenzen gegen antimikrobielle Wirkstoffe (AMR) entstehen, wenn Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten der Wirkung von Medikamenten widerstehen.“ Mehrere Faktoren können diesen Prozess beschleunigen – etwa der übermäßige oder falsche Gebrauch von Arzneimitteln bei Menschen, Nutztieren und in der Landwirtschaft, so die WHO.
Ein Beispiel für Medikamente, die besonders von Resistenzen betroffen sind, sind Antibiotika: Darauf weist das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) mit dem „Antibiotic Awareness Day“ am 18. November 2020 hin. Ohne wirksame Antibiotika „könnten wir in eine Vor-Antibiotika-Ära zurückrutschen, sodass Organtransplantationen, Krebs-Chemotherapien, Intensivpflege und andere medizinische Verfahren nicht mehr länger möglich wären“, befürchtet das ECDC. „Bakterielle Erkrankungen könnten sich ausbreiten, wären nicht mehr behandelbar und würden zu Todesfällen führen.“
AMR: Nicht weniger gefährlich als Coronapandemie
Auch die Verantwortlichen des „AMR Action Fund“, mit dessen Hilfe führende Pharmaunternehmen die Entwicklung von neuen Antibiotika fördern wollen, zeichnen ein düsteres Bild: „Obwohl antimikrobielle Resistenzen (AMR) eine seit Langem bestehende, sich langsam ausbreitende Bedrohung sind, sind sie nicht weniger gefährlich als die COVID-19-Pandemie“. Im Gegenteil: Diese Krise hat „in Bezug auf Todesfälle und ökonomische Kosten das Potential genauso schlimm oder gar schlimmer als COVID-19 zu sein“.
Emma Walmsley, Chefin von GlaxoSmithKline (GSK), weiß: „Die Coronavirus-Pandemie lehrt uns viele Dinge. Dazu gehört, dass die Welt besser auf globale Gesundheitsbedrohungen vorbereitet sein muss.“ Das gilt umso mehr für AMR – im Gegensatz zu COVID-19 immerhin „eine vorhersehbare und vermeidbare Krise“, so Thomas Cueni vom internationalen Pharmaverband IFPMA.
Antibiotika-Pipeline: Kollaps droht
Ein Lösungsansatz gegen (bakterielle) Resistenzen: die Entwicklung neuer Antibiotika. Doch das ist nicht nur eine immense, wissenschaftliche Herausforderung – es gibt auch einige systembedingte Hürden: „Die finanziellen Mittel, die der Forschung zur Verfügung stehen, sind begrenzt. Denn der Markt reflektiert nicht den Wert, den Antibiotika für die Gesellschaft haben, und gibt daher keinen Anreiz für Investitionen“, so Emma Walmsley.
Auch Han Steutel vom Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) fordert, „das Problem der Erstattung“ zu lösen. Die AMR Action Fund-Partner erklären den Hintergrund: „Die Entwicklung von Antibiotika ist ein langer, komplexer und riskanter Prozess, und viele Kandidaten scheitern auf diesem Weg. Sind dann mal neue Antibiotika zugelassen, werden sie sparsam eingesetzt, um ihre Wirkung zu erhalten und die Entwicklung weiterer Resistenzen zu verlangsamen.“ Das Problem: Dieses Konzept – und der damit zusammenhängende unzureichende Umsatz – passt nicht mit der Höhe der Investitionen zusammen, die ein Unternehmen tätigen muss(te), um eine robuste Antibiotika-Pipeline aufrechtzuerhalten. Das gilt vor allem für die besonders kostenintensive Phase der klinischen Entwicklung.
„In den vergangenen Jahren erklärten einige Antibiotika-fokussierte Biotechnologie-Unternehmen den Bankrott oder verabschiedeten sich aus der Forschung in diesem Bereich, obwohl sie erfolgreich neue Antibiotika entwickelt hatten“, heißt es seitens des AMR Action Fund (Pharma Fakten berichtete). Aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Nachhaltigkeit ist „die fragile Antibiotika-Pipeline […] dem Kollaps nahe“.
AMR Action Fund: 2 bis 4 neuartige Antibiotika bis 2030
Vor diesem Hintergrund erläutert Thomas Cueni, IFPMA: „Wir müssen gemeinsam handeln, um die Antibiotika-Pipeline wieder aufzubauen und um sicherzustellen, dass die vielversprechendsten und innovativsten Antibiotika es vom Labor zu den Patienten schaffen“. Genau das soll mit Hilfe des „AMR Action Fund“ geschehen, dessen Start im Juli dieses Jahres verkündet wurde. Cueni: „Der AMR Action Fund ist eine der größten und ehrgeizigsten gemeinsamen Initiativen, die je von der pharmazeutischen Industrie unternommen wurden, um auf eine globale Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zu reagieren“.
David Ricks, Vorstandsvorsitzender und CEO von Eli Lilly and Company und Präsident von IFPMA, führt aus: „Mit dem AMR Action Fund investiert die Pharmaindustrie fast 1 Milliarde US-Dollar, um eine Antibiotika-Pipeline aufrechtzuerhalten, die zusammenzubrechen droht.“
Dazu wird der Fund die Industrie mit anderen Partnern – darunter gemeinnützige Organisationen oder Entwicklungsbanken – zusammenbringen. Geplant ist, Investitionen in kleinere Biotechs zu tätigen, um Finanzierungslücken in der Antibiotikaforschung zu überbrücken; diese sollen über die Allianz zudem von dem Knowhow großer Pharmafirmen profitieren und Unterstützung erhalten. „Indem wir den engagierten Unternehmen finanzielle Unterstützung und Zugang zur umfassenden Expertise und Ressourcen von großen Pharmaunternehmen geben, werden wir die Entwicklung von Antibiotika stärken und beschleunigen“, fasst Hubertus von Baumbach, Vorsitzender der Unternehmensleitung von Boehringer Ingelheim, zusammen. Das übergeordnete Ziel der Fund-Partner: Zwei bis vier neuartige Antibiotika, die es bis 2030 ans Krankenbett der Patienten schaffen.
Nachhaltige Antibiotikaforschung: Politik ist gefragt
Auf lange Sicht gilt: „Für eine Lösung des Problems der Antibiotika-Resistenzen braucht es allerdings Maßnahmen auf der politischen Ebene, Marktreformen im Bereich der Kostenerstattung oder Anreize für die Forschung und Entwicklung, die den Antibiotika-Markt wiederbeleben“, heißt es von den AMR Action Fund-Verantwortlichen. Laut ihnen sind bereits verschiedene Lösungsansätze in der Diskussion – dazu gehören zum Beispiel Modelle, bei denen die Herstellerfirmen nach dem Nutzen der Antibiotika vergütet werden und nicht nach der Menge, die verkauft wird.
„Während die notwendigen politischen Reformen zur Unterstützung von Innovationen im Bereich Antibiotika Zeit brauchen, haben wir als Industrie uns vereinigt, um diese globale Herausforderung anzunehmen“, sagt Hubertus von Baumbach, Boehringer Ingelheim. Denn der drohende Zusammenbruch der Antibiotika-Pipeline „ist eine potenziell verheerende Situation, die Millionen von Menschen auf der ganzen Welt betreffen könnte“, so David Ricks von Eli Lilly and Company. Somit will der AMR Action Fund den Regierungen letztlich Zeit verschaffen: Zeit für die Umsetzung von Reformen, die eine nachhaltige, rentable Antibiotikaforschung und -entwicklung möglich machen.
Partnerschaftliche Antibiotikaforschung
Dass es auf Zusammenarbeit ankommt, da sind sich die Industriepartner einig: „Wir sind sehr davon überzeugt, dass die Welt die zunehmende Bedrohung durch AMR nicht ohne Kollaboration angehen kann“, meint etwa Pfizer-Chef Albert Bourla. Auch Vas Narasimhan, CEO von Novartis, betont den Wert öffentlich-privater Partnerschaften, um „mit Regierungen, Biotechfirmen und Wissenschaftslaboren gemeinsam für die nächste Innovationswelle zu sorgen“.
Stefan Oelrich, Vorstandsmitglied der Bayer AG, sagt in Bezug auf AMR: „Kein Unternehmen und keine Organisation kann diese Krisen im Alleingang bewältigen. Covid-19 hat uns eindringlich gezeigt, was in Krisenzeiten möglich ist.” Und für Emma Walmsley, GSK, ist klar: „Durch partnerschaftliches Zusammenarbeiten spielt unsere Industrie eine Schlüsselrolle in Sachen Coronavirus. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dasselbe im Kampf gegen AMR tun können“.
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