Die Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen bekommen Zulauf, in Italien gibt es sogar nächtliche Straßenschlachten. Die Geduld der Menschen mit dem Virus scheint begrenzt zu sein. Da dürfte es für viele praktisch sein, dass sie für ihr eigentlich unverantwortliches Handeln im weltweiten Netz vermeintlich Rückendeckung finden. Denn in zahlreichen Foren auf Facebook, Instagram und Co. tummeln sich viele selbsternannte Experten, deren mediale Reichweite in umgekehrtem Verhältnis zur wissenschaftlichen Nachprüfbarkeit ihrer Aussagen steht. Das ist kein neues Phänomen.
Gerade, wenn es um das Impfen geht, kann man im Hinblick auf das Internet festhalten: Es gibt zu dem Thema nichts, was es nicht gibt. Leider auch jede Menge Falschaussagen (denen man übrigens nicht wehrlos ausgeliefert ist, wie dieser Artikel über die „Infodemie“ zeigt – Pharma Fakten berichtete).
Das Ganze hat schwerwiegende Folgen, z.B. auf die Impfbereitschaft der Menschen. Bei der Agentur KOMM.PASSION wollte man deshalb wissen: Wer sind diese Leute, die scheinbar immun gegen Impfungen sind? Und wie kann man sie erreichen?
Ein Gespräch mit Professor Alexander Güttler. Der promovierte Journalist und Marketing-Spezialist ist Gründer und CEO von KOMM.PASSION.
Prof. Güttler, was ist denn ein Impfgegner-Verweigerer?
Prof. Güttler: Es ist ein Wortspiel: Wir verweigern uns der Impfgegnerschaft, weil es ein Rückschritt ist, wenn pauschale Impfgegnerschaft salonfähig wird. Impfgegner oder Impfverweigerer sind Leute, die sagen: Ich will nicht geimpft werden. Ich will nicht, dass meine Kinder geimpft werden. Und die haben mit der Corona-Geschichte deutlich Zulauf gewonnen. Mitte des Jahres wollten sich nach Umfragen noch rund zwei Drittel impfen lassen, inzwischen ist die Zahl derer, die auf die Corona-Impfung dringlich warten, nur noch knapp über der Hälfte. Die auch in den sozialen Medien ziemlich laute Auseinandersetzung zum Thema Impfen scheint also zu wirken. Wir kennen diese Entwicklung ja von anderen Impfungen her: Wie bei den Masern, übrigens in den 60er Jahren noch eine tödliche Krankheit, wo die Impfung heute wieder teilweise in der Diskussion ist. Da spielen schon erhebliche Irrationalitäten mit. Und da müssen wir gegenhalten – eben als Impfgegner-Verweigerer.
Deshalb also die Milieustudie? Um herauszufinden, wer die Menschen sind, die sich selbst als impfskeptisch sehen?
Güttler: Ja, genau. Man hört das laute Geschrei. Man sieht diesen Kochbuchautor Hildmann über die Bühne zappeln und man fragt sich: Was ist eigentlich dahinter? Wenn man dann recherchiert, sieht man, dass es da z. B. auf Facebook eine ganze Mengen von Foren gibt, in denen diskutiert wird und die so schöne Namen haben wie „Impfkritik“, „Impffrei“, „Nein zum Impfzwang“ oder „Leben ohne Impfung“. Die Größe dieser Gruppen hält sich teilweise in Grenzen, aber das Interessante ist, dass die sehr gut vernetzt sind – auch zu anderen, neutraleren Gruppen. Das bedeutet, dass das, was da diskutiert wird, sich relativ gut durchsetzt.
Wie funktionieren solche Social Media-Analysen?
Güttler: Dafür haben wir – insbesondere, wenn es um Facebook oder Instagram geht – PAS. Das steht für Pragmatic Analytic Services. Das machen wir gemeinsam mit Dr. Klaus Holthausen, der einer der Leute ist, die das Thema Künstliche Intelligenz in den 1990er Jahren in Deutschland mit erfunden haben. Wir haben da eine mathematische Brücke entwickelt, so dass wir unsere Analysen z.B. in Sinus-SIGMA-Milieus abbilden können. Kurz: Wir wollten wissen, wie sich diese Impfgegner, die sich auf Social Media bewegen, zu diesen klassischen Milieus zuordnen lassen.
Und?
Güttler: Interessant war, dass die meisten Milieus einen relativ überschaubaren Wert an Impfgegnern haben. Das sind so zwischen drei und acht Prozent. Aber ein Milieu fällt völlig heraus. Das sind die Liberal-Intellektuellen. Die liegen bei um die dreißig Prozent. Das ist schon deutlich und kann sich eher kaum um einen statistischen Fehler handeln. Aber natürlich bräuchte es jetzt weitere Studien, um das zu verifizieren. Das ist jetzt ein Schlaglicht. Aber es ist ein Ergebnis, das uns natürlich zu denken gibt, denn das ist die Elite unserer Gesellschaft.
Man könnte also – zugegebenermaßen etwas platt – sagen: Je mehr Abitur desto mehr Impfgegnerschaft?
Güttler: Das ist tatsächlich zu platt. Die Elite unserer Gesellschaft, also die, die höhere Positionen haben, einen höheren Bildungsgrad, die über mehr Geld und Macht verfügen, kann man in drei Gruppen einteilen. Da sind einmal die eher konservativen Eliten und bei denen ist die Impfgegnerschaft wenig ausgeprägt. Da scheint ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gesellschaft zu sein – die impfen sich. Dann gibt es das Postmoderne Milieu, eher experimentell veranlagt und auch bei denen ist – zumindest in unseren Analysen – die Impfgegnerschaft geringer ausgeprägt. In der Mitte liegen die Liberal-Intellektuellen, also die, die das Thema Verantwortung, sozial und ökologisch, kritischer Geist usw. wie eine Fackel vor sich hertragen und auch sehr anspruchsvoll konsumieren. Und interessanterweise scheint diese Elite ihrer Rolle nicht gerecht zu werden: Sie tut nicht, was sie sagt. Übrigens: Das kann durchaus etwas zu tun haben mit dem allgemein wahrgenommenen Misstrauen gegen Eliten. Wenn Du Leute hast, die viel predigen, aber selbst dann bei ihrer Tochter sagen: „Nee, die HPV-Impfung, die lasse ich sein. Die könnte ja – das habe ich irgendwo gelesen – irgendeine Nebenwirkung haben.“
Eine sehr deutliche Kritik…
Güttler: Mich erinnert das irgendwie an George Orwell. Er nannte dieses Phänomen „Zwie-Denken“; sprich: eine Sache zu sagen und im Grund genommen genau das andere tun und einfach nur an der Oberfläche Verantwortungsbewusstsein zeigen.
Ist das nicht auch ein wenig Zeitgeist?
Güttler: Ich denke ja. Wir sehen das auch bei dem gesamten Thema der alternativen Fakten. Dass viele mittlerweile mit verschiedenen Wahrheiten gleichzeitig agieren. Wenn das ein Symbol von Zeiten und von Eliten wird, dann müssen wir uns über Vertrauensverfall wirklich gar keine Gedanken mehr machen.
Hat Sie das Ergebnis ihrer Studie überrascht?
Güttler: Ja. Ich hatte es zwar befürchtet, aber in dieser Deutlichkeit nicht.
Was lernen wir aus den Ergebnissen? Was machen wir jetzt damit?
Güttler: Aus meiner Sicht lernen wir daraus mehrere Sachen. Wir brauchen eine Bewegung zurück zur Rationalität und zu den Fakten. Wir müssen uns erheblich deutlicher gegen alternative Fakten und Fake-News wehren. Was wir bei der Impfgegnerschaft erleben, ist aus meiner Sicht etwas ganz Extremes. Es gibt wenige Dinge, die der Menschheit so genutzt haben wie das Impfen. Unglaubliche Krankheiten sind aus der Welt geschafft worden. Ich bin Jahrgang 1960 und erinnere mich noch an viele, die Kinderlähmung gehabt haben. Es gab erhebliche Todesfälle wegen Masern, Diphtherie war international ein Riesenthema. Und wenn wir noch länger zurückdenken, kommen wir zu ganz anderen, erheblich schlimmeren Krankheiten. Das haben wir geschafft, weil wir als Gesellschaft für eine Immunität eingetreten sind – das hässliche Wort „Herdenimmunität“ – und wenn wir die verlieren, dann hat das auch etwas mit dem Solidaritätsverlust einer Gesellschaft zu tun. Ich finde, da müssen wir massiv gegen angehen. Wir brauchen in Deutschland einen Runden Tisch, wie das ja auch auf Pharma Fakten schon gefordert wurde, damit das Thema Impfen wieder stärker ins Bewusstsein rückt – auch für Liberal-Intellektuelle.
Die Milieustudie ist am 12.10.2020 im Dossier „Impfgegner-Verweigerer“ der Kreativ-Agentur und Unternehmensberatung KOMM.PASSION erschienen.