COVID-19 ist seit Monaten das alles bestimmende Thema. Verlieren wir darüber andere Erreger aus dem Auge?
Caroline Schweizer: In gewisser Weise ja. Wir befinden uns mitten in einer Pandemie, ausgelöst durch ein Virus, das uns zeigt, welch großen Schaden kleinste Organismen anrichten können, wenn es weder einen Impfstoff noch wirksame Therapien gibt. Seit Jahren entwickelt sich noch ein anderes Problem, das für die Menschheit perspektivisch zu einer noch größeren Bedrohung werden könnte: Die Verbreitung multiresistenter Keime.
Von welchem Ausmaß sprechen Sie?
Schweizer: Nach aktuellen Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben schon jetzt jährlich weltweit 700.000 Menschen an Infektionen mit multiresistenten Erregern […].1 Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, und die Ausbreitung nimmt weiter zu. Britische Forscher haben berechnet, dass im Jahr 2050 antimikrobielle Resistenzen rund zehn Millionen Menschen weltweit das Leben kosten werden, wenn die Entwicklung im gleichen Tempo voranschreitet.
Worauf ist dieser Anstieg zurückzuführen?
Schweizer: Auf den übermäßigen Gebrauch von Antibiotika in Situationen, wo sie gar nicht nötig sind, etwa bei Virusinfekten. Auf zu langen, zu einseitigen und zu häufigen Einsatz, unter anderem in Ländern, in denen Antibiotika nicht verschreibungspflichtig sind. Und auch hierzulande spielt in den Kliniken der Preisdruck bei der Wahl eines Antibiotikums eine Rolle, was ebenfalls zu einem einseitigen Einsatz führen und so Resistenzen fördern kann. Und dann die Massentierhaltung. Hier werden teilweise Substanzen eingesetzt, die im Humanbereich als Reserveantibiotika gelten. Und das nicht vorrangig zur Vorbeugung und Behandlung von Infektionen, sondern, was viele Verbraucher nicht wissen, zu Mastzwecken.
Wie entstehen Resistenzen überhaupt?
Schweizer: Wenn man eine Infektion mit einem Antibiotikum behandelt, werden empfindliche Erreger – und das ist die Mehrzahl – abgetötet. Die Erreger jedoch, die zufällig resistent sind, bleiben zurück und können sich nun stärker ausbreiten. Bewährt sich so ein Resistenzmechanismus, kann dieser auch auf andere Bakterien weitergegeben werden, sogar wenn sie einer anderen Art angehören. So können sich Resistenzen immer weiter ausbreiten – im allerschlimmsten Fall so lange, bis all unsere verfügbaren Antibiotika nicht mehr wirksam sind.
Und dann?
Schweizer: Dann wären wir wieder im medizinischen Mittelalter. Wir würden wieder in einer Welt leben, wo jeder Mensch an einer einfachen Wundinfektion oder einer Lungenentzündung sterben kann. Wo es für einen 25-Jährigen einem Todesurteil gleichkommt, wenn er beispielsweise nach einem Fahrradunfall eine Wundinfektion entwickelt. Die gesamte moderne Medizin, wie wir sie kennen, wäre in Gefahr.
Wie meinen Sie das konkret?
Schweizer: Ein Beispiel: Was nützt eine Lebertransplantation, deren Kosten im fünf- bis sechsstelligen Bereich liegen, wenn der Patient, dessen Immunsystem ja unterdrückt werden muss, damit der Körper das fremde Organ nicht abstößt, dann an einer unkomplizierten bakteriellen Infektion verstirbt? Erkrankungen wie Krebs rangieren ja erst seit wenigen Jahrzehnten so weit oben unter den häufigsten Todesursachen, weil die Lebenserwartung in der „Prä-antibiotischen Ära“ deutlich geringer war.
Ist es denn so schwierig, ein neues Antibiotikum zu entwickeln?
Schweizer: Ich denke, die Entwicklung einer neuen Wirkstoffklasse ist nie trivial. Die Wirkprinzipien, um ein Bakterium abzutöten, sind begrenzt. Es gibt verschiedene Angriffspunkte, die man bereits nutzt, etwa die Proteinsynthese oder den Stoffwechsel des Bakteriums. Es wird somit immer schwieriger, wirklich neue Ansätze zu finden. Überhaupt ist die Arzneimittelentwicklung heute in vielen Bereichen eine ganz andere als noch vor 20 Jahren, es geht um sehr spezielle Therapieansätze unter der Nutzung innovativer Verfahren. Es wird somit für ein Unternehmen, das in vielen Indikationsbereichen aktiv ist, immer schwieriger, seine Expertise zu bündeln und solch spezielle Therapieformen zu entwickeln. Heute sind die Firmen, die an neuen Wirkansätzen gegen Bakterien und Pilze forschen, oft kleinere Biotech-Unternehmen, die dann an den hohen Kosten scheitern, die anfallen, um die entwickelte Substanz auf den Markt zu bringen. Es geht also nicht nur darum, neue Substanzen zu entwickeln, sondern auch darum, Unterstützungsmodelle für kleinere Biotech-Startups zu finden sowie allgemein Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Entwicklung neuer Antiinfektiva wieder attraktiv machen.
Sind sie das nicht?
Schweizer: Nein. Rein wirtschaftlich betrachtet ist die Entwicklung eines neuen Antibiotikums in vielen Fällen ein Verlustgeschäft. Die Tagestherapiekosten für ein Krankenhausantibiotikum, das keinen Patentschutz mehr hat, sind sehr niedrig, liegen zum Teil sogar im einstelligen Bereich. Zudem sollen neue Antibiotika, die auch bei multiresistenten Erregern noch wirksam sind, ja möglichst selten eingesetzt werden, damit sie lange als Therapieoption erhalten bleiben. Es liegt somit auf der Hand, dass die Ausgangsbedingungen, um in die Entwicklung neuer Antibiotika zu investieren, nicht unbedingt optimal sind.
Was muss sich hier ändern?
Schweizer: Inzwischen hat man erkannt, dass es hier spezielle Förderprogramme braucht, für die es auch bereits erste internationale und nationale Beispiele gibt. Auch besondere Rahmenbedingungen, vergleichbar zu denen für Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen, was die automatische Anerkennung eines Zusatznutzens im Nutzenbewertungsverfahren angeht, sind aktuell für Reserveantibiotika in Planung. Zudem brauchen wir neue Erstattungssysteme für Antibiotika in der Klinik, da der Einsatz innovativer, teurerer Reserveantibiotika genauso wenig wie eine umfangreiche Resistenztestung in den DRG-Fallpauschalen ausreichend abgedeckt ist. Das sind Schritte in die richtige Richtung, es reicht aber nicht aus.
Ist Pfizer in der Erforschung neuer Antiinfektiva aktiv?
Schweizer: Ja, wir investieren in die Entwicklung neuer Antibiotika. Ein Beispiel dafür ist der Aktionsfonds gegen antimikrobielle Resistenzen, die in diesem Jahr gestartete und bisher größte weltweite Initiative im Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen. Mehr als 20 pharmazeutische Unternehmen, Stiftungen und die europäische Entwicklungsbank haben sich zum sogenannten AMR Action Fund zusammengeschlossen, mit dem Ziel, mit insgesamt fast einer Milliarde US-Dollar die Entwicklung neuer Antibiotika voranzutreiben, junge Biotech-Unternehmen in diesem Bereich zu unterstützen und bis 2030 die Entwicklung von zwei bis vier neuen Antibiotika zu ermöglichen. Pfizer beteiligt sich mit 100 Millionen US-Dollar.
Wir teilen das Interview mit freundlicher Genehmigung von www.landdergesundheit.de / Pfizer.
Quelle: 1) WHO: New report calls for urgent action to avert antimicrobial resistance crisis