Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen sollten diesen Text aufmerksam lesen. Denn durch Migräne gehen in Deutschland sehr viele Arbeitstage verloren (s. Grafik). Fehltage, verminderte Arbeitsfähigkeit, aber auch indirekte und induzierte* Folgen der Erkrankung summieren sich laut der Studie „The socioeconomic burden of migraine“ des WifOR auf rund 100 Milliarden Euro jedes Jahr. Das ist ein Teil der Geschichte.
Der andere ist, dass diese Krankheit trotz ihrer massiven Effekte, die weit über die akuten Schmerzen hinausgehen, in der öffentlichen Wahrnehmung eine Art Schattendasein führt. So treten Depressionen bei Menschen mit Migräne doppelt so oft auf wie bei Menschen ohne Migräne. Viele sind frustriert über fehlendes Verständnis oder Ratschläge, mit denen man Patienten und Patientinnen regelrecht auf die Palme bringen kann. Eine Auswahl davon ist nachzulesen auf migraine.com. „Zwölf Dinge, die Sie nie einem chronischen Migräne-Erkrankten sagen sollten“, spiegelt den Frust der Betroffenen wider: Das Spektrum reicht von „Das kann doch nicht so weh tun“ (falsch), über „Es kann nicht so schlimm sein“ (auch falsch) bis zu „Sind ja nur Kopfschmerzen“. Auch das ist falsch.
Migräne: Eine schwere neurologische Erkrankung
Migräne ist eine schwere neurologische Erkrankung, die episodisch oder chronisch auftritt und mehrheitlich Frauen trifft. Eine Attacke kann sich in bis zu vier Phasen manifestieren, in denen u.a. starke, häufig halbseitig „pochende“ Kopfschmerzen auftreten können, die sich verschlimmern, wenn sich die Betroffenen bewegen. Weitere typische Begleitsymptome sind Übelkeit und eine Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen, manchmal auch gegenüber Gerüchen und Hautkontakt. Weltweit ist eine bzw. einer von Zehn betroffen, in Deutschland sind es bis zu 15,5 Millionen. Das ist nur eine Schätzung, weil offenbar 40 Prozent der Erkrankten nicht diagnostiziert werden. Sie leiden mehr als sie müssten.
Ursachen und Auslöser der Migräne sind bis heute nicht vollständig verstanden. Allerdings gehen Forschende seit längerem davon aus, dass das Neuropeptid CGRP (steht für Calcitonin Gene-Related Peptide) eine Rolle spielt und in der Entstehung der Migräne und der Weiterleitung des Migräneschmerzes involviert ist. In Studien konnte gezeigt werden, dass eine intravenöse Gabe von CGRP bei Migräne-Erkrankten direkt Migräneattacken auslösen kann. Außerdem steigen die CGRP-Spiegel im Plasma bei einer Migräneattacke an und sinken ab, wenn die Migräne abklingt. Diese Erkenntnisse waren die Grundlage für die Entwicklung von so genannten CGRP-Antikörpern. Das sind Spritzen beziehungsweise Pens, die vorrangig für Personen infrage kommen, die regelmäßig unter Migräne leiden und denen andere Therapien nicht helfen können. CGRP-Antikörper sind die ersten Medikamente, die spezifisch für die Vorbeugung von Migräne entwickelt wurden.
Migräne: Der sozioökonomische Fußabdruck in Deutschland
Die WifOR-Studie zeichnet den sozioökonomischen Fußabdruck nach, den die Krankheit in einem Jahr in Deutschland hinterlässt:
- 60 Prozent der Migränebetroffenen haben drei oder weniger Kopfschmerztage pro Monat.
- 5,4 Prozent der Patienten und Patientinnen leiden an chronischer Migräne (mehr als 15 Kopfschmerztage pro Monat).
- Zwei Drittel (65 Prozent) der 836 Millionen jährlichen Kopfschmerztage entfallen auf Frauen.
- 1,22 Milliarden Arbeitsstunden, davon 544,2 Millionen bezahlt und 675,8 Millionen unbezahlt, gehen aufgrund von Migräne verloren.
Gerade die letzten Zahlen verdienen Beachtung. Weil die Migräne mehrheitlich weiblich ist, fällt bei dieser Erkrankung ein besonders hoher Anteil unbezahlter Arbeit weg. Das sind viele solcher Tätigkeiten, die in Wirtschaftsstatistiken nicht auftauchen, aber eine Gesellschaft zusammenhalten: Ehrenamt, Pflege von Bekannten und Angehörigen, Betreuung von Kindern und Jugendlichen, Engagement in Vereinen. Die WifOR-Studie hat erstmals auch diesen gesamtgesellschaftlichen Effekt „monetarisiert“.
Migraine Care: Die Lebensqualität von Betroffenen verbessern
Doch zurück zur Wirtschaft. In Zusammenarbeit mit Patientenorganisationen sowie Experten und Expertinnen aus den Bereichen Neurologie, Telemedizin und digitale Medizin hat das Unternehmen Novartis in der Schweiz ein Pilotprogramm entwickelt, das Migräne-betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Service zur Verbesserung ihrer Lebensqualität bietet. „Migraine Care“ hat bereits erste Ergebnisse geliefert. In einer Befragung zeigte sich, dass sich die Migräne bedingten Beeinträchtigungen im Durchschnitt um 54 Prozent reduzierten und nach neun Monaten sogar um 64 Prozent. „Im Mittel gewannen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Jahr 10,8 Arbeitstage und 14,5 arbeitsfreie Tage ohne Migräne. Etwa 90 Prozent von ihnen gaben nach sechs Monaten an, dass sie sich insgesamt besser fühlten“, heißt es bei Novartis.
Das Unternehmen hat deshalb beschlossen, angelehnt an „Migraine Care“ eine solche Initiative auch in Deutschland einzuführen. „Migräne muss in alle Köpfe“ ist Säule des betrieblichen Gesundheitsmanagements beim Unternehmen selbst und soll nun auch anderen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.
„Migräne muss in alle Köpfe“ – Migräne-Programm auch in Deutschland
Für Ärztinnen und Ärzte in Betrieben und der Arbeitsmedizin sowie für Personalabteilungen bietet Novartis Informationsmaterialien, Newsletter-Bausteine und eine Checkliste für die Gestaltung eines Migräne-freundlichen Arbeitsplatzes an. Außerdem werden weitere mögliche Bausteine eines betrieblichen Gesundheitsmanagement-Programms vorgestellt, wie zum Beispiel eine Service-Hotline und Angebotsberatung oder ein Online-Trainingsprogramm für Betroffene. Es ist ein Projekt, das mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt: „Es kann Betroffenen das Management ihrer Krankheit erleichtern und fördert unter Kolleginnen und Kollegen die Akzeptanz für ihr Leiden“, sagt Leonhard Schätz, der das Projekt bei Novartis in der Schweiz ins Leben gerufen hat. „Gleichzeitig machen uns die Daten aus dem Pilotprojekt Migraine Care Mut, dass ein solches Projekt auch für Arbeitgeber von Vorteil ist. Rund zehn Tage weniger verlorene Arbeitstage pro Jahr: Das zeigt das Potenzial eines ganzheitlichen Ansatzes zur Unterstützung von Migräne-Patienten.“ Am meisten freut er sich aber über diese Zahl: „90 Prozent der im Pilotprojekt Befragten gaben an, sich nach sechs Monaten besser zu fühlen.“ Diese Ergebnisse belegen: „Mit einem Arbeitgeber-initiierten Programm kann für Migräne-Patienten selbst, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und letztendlich die ganze Gesellschaft ein echter Unterschied gemacht werden.“
* Induzierte Effekte sind ökonomische Effekte, die sich daraus ergeben, dass Menschen Geld verdienen und es ausgeben: z.B., um sich Möbel zu kaufen.