Mehr als 2,8 Millionen Coronavirus-Fälle wurden inzwischen in Deutschland gezählt: Viele von ihnen gelten wieder als „genesen“ – auch wenn sie womöglich noch länger mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben. Über 77.000 sind verstorben (Stand: 05.04.2021). Hinzu kommen immense Folgen für die Wirtschaft: Wie aus Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervorgeht, kostet der Lockdown allein im ersten Quartal des Jahres 2021 die hiesige Ökonomie rund 50 Milliarden Euro; das IW erwartet einige Insolvenzen. Die „Impfkampagne“ ist zwar in vollem Gange – aber noch hat SARS-CoV-2 Länder weltweit fest im Griff.
„Die COVID-19-Pandemie wird in ihren Auswirkungen voraussichtlich die Wirtschaftskrise von 2008/2009, deren Ausgangspunkt der Finanzsektor war, bei Weitem übertreffen“, heißt es in dem Impulspapier von acatech. „Es stellt sich also die Frage: Welche Erkenntnisse sind aus der aktuellen Krise zu ziehen, und welche Verbesserungen müssen vorgenommen werden, um das Gesundheitssystem in Zukunft resilienter und gleichzeitig leistungsfähiger zu machen?“
In Krisen: Warum „resilient“ sein?
Resilienz, so fasst das Team um Prof. Dr. Thomas Lenarz (Medizinische Hochschule Hannover) und Karl-Heinz Streibich (acatech-Präsident) zusammen, „ist die Fähigkeit, sich auf plötzliche und schwer vorhersehbare negative Ereignisse (Schocks) vorzubereiten, diese zu bewältigen und auf Basis der gemachten Erfahrungen Systeme anzupassen und zu verbessern.“
Gesellschaften, die „resilient“ sind, sind dementsprechend „in der Lage, die menschlichen, ökonomischen und ökologischen Schäden, die von widrigen Ereignissen verursacht werden, so gering wie irgend möglich zu halten. Sie schaffen das, indem sie die schädlichen Impulse abfedern, deren Wirkungen abmildern und sich flexibel auf neue Lebensumstände einstellen.“ Eine „gesellschaftliche Herausforderung“ ist das. Mit einmaligen Maßnahmen ist es nicht getan – vielmehr handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess.
Forschung, Wissenschaft & Produktion stärken
In diesem Prozess gibt es mehrere Stellschrauben, an denen gedreht werden kann – etwa in Sachen Digitalisierung. „Wir brauchen einen Datenraum, der den Austausch von Informationen in Echtzeit erlaubt und die vertrauensvolle Verarbeitung ermöglicht“, meint Streibich. Die Expert:innengruppe empfiehlt in diesem Sinne eine europäische „Datenraumarchitektur mit einheitlichen (Daten-)Standards.“ Sie soll im Krisenfall die digitale Vernetzung nationaler Gesundheitssysteme möglich machen. Wichtig ist auch eine verstärkte Vernetzung von Forschungsdaten, um Forschungsaktivitäten zu bündeln und letztlich Diagnose, Prognose und Behandlung von Erkrankten zu verbessern.
„Europa muss zudem stärker in der Entwicklung neuer Technologien für den Gesundheitsbereich werden“, heißt es bei acatech. Notwendig ist ein „Innovationsökosystem, in dem Gründergeist, Unternehmertum und Innovationen stärker gefördert werden.“ So würden „weniger strenge regulatorische Rahmenbedingungen“ zum Beispiel die Gründung von Firmen begünstigen. „Ein Risikokapitalfonds könnte dazu beitragen, die Liquidität eines Unternehmens aufrechtzuerhalten, während es an einer Innovation arbeitet und noch keinen Return on Investment verzeichnen kann“, lautet ein Vorschlag.
In diesem Zuge sollte auch eine Europäische Impfstoffinitiative „weiter vorangebracht werden“. Das Ziel: dringend benötigte Impfstoffe schneller verfügbar machen. Vorbild könnte die „Coalition of Epidemic Preparedness Innovations” (CEPI) sein: eine internationale Allianz, die Regierungen, Industrie, Wissenschaft, Gesellschaft sowie Organisationen wie die WHO zusammenbringt und die Entwicklung neuer Vakzine unterstützt und koordiniert.
Durch die Stärkung europäischer und deutscher Forschung, Wissenschaft und Produktion, so heißt es im acatech-Papier, steigt letztlich die „Resilienz des eigenen Systems“.
Belastungsgrenzen in Gesundheitskrisen
Mögliche Engpässe und Abhängigkeiten kann auch das aber nicht gänzlich beseitigen. „Die Versorgungsstrukturen bestimmen über die Belastungsgrenzen in einer Krisensituation. Sie sollten modernisiert und ausgebaut werden“, fordert daher Lenarz. Es brauche mehr medizinische Versorgungs- und ambulante OP-Zentren, bessere Reserven von Medizintechnik für Diagnose und Therapie, von Labor- und Testkapazitäten und von Arzneimitteln und Impfstoffen. Laut dem Impulspapier müsste der öffentliche Gesundheitsdienst u.a. durch die Aufstockung von Fachpersonal gestärkt werden.
Vergangenes Jahr berichteten mehrere Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass Deutschland viermal so viele Intensivbetten wie Italien habe (33,9 auf 100.000 Menschen vs. 8,6/100.000). Es ist ein Beispiel, das zeigt, wie unterschiedlich die Belastungsgrenzen der Gesundheitssysteme innerhalb Europas ausfallen können. „Entsprechend wichtig ist die Koordination und Kooperation aller beteiligten Behörden, Institutionen und weiterer Akteure auf lokaler, Landes- Bundes- und EU-Ebene“, meint acatech.
Und noch etwas zeigte die Pandemie deutlich: Welchen Erfolg die Maßnahmen, die die Politik beschließt, haben, hängt zu einem großen Teil auch von der Bevölkerung ab. Gerade wenn individuelle Freiheiten vorübergehend und zum Wohle der Gesundheit eingeschränkt werden, gilt es, den politischen Entscheidungsprozess „vollständig transparent“ zu kommunizieren, damit die Menschen „die Maßnahmen akzeptieren und mittragen.“
Am Endes Papiers fassen die Fachleute zusammen: „Es ist wichtig, das Gesundheitssystem auf Basis von fortlaufender Digitalisierung, soliden Datengrundlagen, ineinandergreifenden Prozessen und unter Beachtung des ‚Faktors Mensch‘ – nicht nur als essenzielle Ressource, sondern auch in Bezug auf Grund- und Freiheitsrechte – auf neue Herausforderungen vorzubereiten.“ Wie auch immer diese Herausforderungen genau aussehen werden.