Rund 15 bis 20 Prozent der Menschen im Alter von über 65 Jahren leiden an einer Verschlechterung der kognitiven Gesundheit – möglicherweise als ein frühes Symptom einer neurodegenerativen Erkrankung wie Alzheimer. Erste Anzeichen wie eine niedrige Aufmerksamkeitsspanne oder Gedächtnisprobleme werden allerdings häufig erst spät erkannt.
Das könnte sich künftig ändern: Denn wenn Hirnforschung auf neueste digitale Technologien trifft, ergeben sich bislang nicht dagewesene, neue Möglichkeiten.
Dr. Wolfram Schmidt, Geschäftsführer bei Biogen in Deutschland, berichtete von der Zusammenarbeit seiner Firma mit dem Technologieunternehmen Apple: Eine gemeinsame Forschungsstudie soll untersuchen, welche Rolle die Apple Watch – eine Art Uhr und Mini-Computer in einem – sowie das iPhone dabei spielen können, einen Abbau der kognitiven Fähigkeiten zu erkennen. „Diese Geräte können heute schon ganz viele sensible Parameter messen.“ Basis dafür bildet zum Beispiel die Art und Weise, wie eine Person auf der Tastatur tippt – oder wie häufig sie sich vertippt. Gesammelt werden Daten im Kampf gegen Demenz. So „kann man sehr viel früher als viele Ärzte und die Patienten selbst erkennen, ob eventuell kognitive Störungen – d.h. Gedächtnisstörungen, Denkstörungen – vorliegen“, so Schmidt.
Alzheimer: Digitale Gesundheitsanwendungen
Auch der Neurologe Prof. Dr. med. Emrah Düzel sieht in digitalen Technologien große Chancen. Gegen eine Vielzahl von Erkrankungen wie Depressionen oder Migräne gibt es heute schon sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), die in Deutschland von Ärzt:innen verordnet und von Krankenkassen erstattet werden können. Das brauche es zeitnah auch im Kampf gegen Alzheimer, so Düzel. Dabei werde es zunächst vor allem um die kognitive Testung gehen. Im Kern steht dementsprechend die Frage: „Liegt […] eine Beeinträchtigung von Gedächtnisfunktionen vor oder nicht?“ Hier sei man schon relativ weit. Düzel weiß, wovon er spricht: Er ist nicht nur Mediziner, sondern auch Mitgründer von neotiv – eine Firma, die laut Webseite solch kognitive Tests entwickelt, die „eingebettet in eine digitale Plattform […] eine frühzeitige medizinische Einordnung und Nachverfolgung von Gedächtnisproblemen im Zusammenhang mit der Alzheimer-Erkrankung ermöglichen.“
Zusätzlich zu derartigen DiGA könnten in wenigen Jahren blutbasierte Diagnose-Tools verfügbar werden, erläuterte Düzel. Diese Kombination aus digitalen und biologischen Untersuchungen werde die Versorgung „massiv umkrempeln“. Außerdem „besteht die berechtigte Hoffnung“ auf Therapien „für die frühe und präventive Behandlung der Alzheimer-Erkrankung“, die durch die Kombi aus DiGA und Bluttest „wesentlich besser in der Versorgung verankert werden können“.
Digitalisierung: Gesundheitsversorgung besser machen
Für Laura Wamprecht, Geschäftsführerin des Innovationsnetzwerks Flying Health, liegt das Potenzial der Digitalisierung und Datenerfassung nicht nur in der Früherkennung von Morbus Alzheimer. So geht sie zum Beispiel davon aus, „dass wir die Versorgung besser machen können und viel gezielter auf einzelne Personen zuschneiden können“, wenn vorhersehbar ist, wie die Erkrankung individuell verlaufen wird. Digitalisierung hat in ihren Augen den Vorteil, „dass sie extrem nah am Menschen ist“. Viele Menschen – „von morgens aufstehen bis abends ins Bett gehen“ – nutzen schon zahlreiche Technologien.
Trotzdem haben einige von ihnen Bedenken bezüglich des Datenschutzes. Dr. Wolfram Schmidt, Biogen: „Ich persönlich bin der Meinung, dass wir den Nutzen all dieser Anwendungen über die Thematik der Risiken stellen müssen.“ Datenschutz sei sehr wichtig. Aber es „gibt heute viele Möglichkeiten, wie wir den Datenschutz auch gewährleisten können.“ Daher plädierte Schmidt, den Fokus in der Öffentlichkeit auf die „Möglichkeiten und Benefits für die Patienten“ zu legen – so wie das andere Länder wie die USA machen.
Als Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe repräsentierte Dr. Martin Danner in der virtuellen Diskussionsrunde die Stimme der Patient:innen in Deutschland: Er weiß, wie wichtig es ist, dass die Menschen darauf vertrauen können, dass die digitalen Anwendungen ganz in ihrem Interesse sind und „adäquat mit den Daten umgegangen wird.“ In diesem Sinne plädierte er dafür, Patient:innenorganisationen schon früh in die Konzeption und Entwicklung von digitalen Anwendungen einzubinden. Bedenken rund um das Thema Datenschutz könnten so von Anfang an adressiert werden.
Alzheimer: Aus COVID-19 lernen
Dr. Schmidt sieht momentan eine „einmalige Chance im Bereich Alzheimer.“ Denn man stehe noch am Anfang. „Das heißt: Wir bauen gerade enorme Datenmengen auf. Wir erkunden die Versorgungs- und Therapiemöglichkeiten in der Zukunft.“ Es gehe nun etwa darum, Daten aus Patientenregistern so zu vernetzen, dass „Akademia, Privatwirtschaft, Forschung“ zusammenkommen und Lösungen für die Betroffenen entwickeln können. „Wir haben an der COVID-19-Pandemie gesehen, was Konzentration und Digitalisierung ermöglichen können; wie schnell wir Dinge in der Forschung vorantreiben können.“ Diese Lehren aus der Pandemie gilt es, im Bereich Morbus Alzheimer anzuwenden. Das Ziel: ein personalisierter und patientennaher Umgang mit der Erkrankung.