Die Digitalisierung macht eine bessere Medizin möglich  sagt Prof. Dr. Hagen Pfundner von Roche Pharma. Ein Gespräch über verpasste Chancen  falsch verstandenen Datenschutz und die Risiken für den Innovationsstandort. Foto: ©iStock.com/SOMKID THONGDEE
Die Digitalisierung macht eine bessere Medizin möglich sagt Prof. Dr. Hagen Pfundner von Roche Pharma. Ein Gespräch über verpasste Chancen falsch verstandenen Datenschutz und die Risiken für den Innovationsstandort. Foto: ©iStock.com/SOMKID THONGDEE

Aus Daten Sinn machen

Die Digitalisierung in Gesundheitswesen und Medizin macht eine bessere und zielgerichtete Behandlung von Krankheiten möglich. Diese Erkenntnis hat sich in Deutschland noch nicht richtig durchgesetzt, sagt Prof. Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG. Ein Gespräch über verpasste Chancen, falsch verstandenen Datenschutz, ideologische Überfrachtung und die Risiken für den Innovationsstandort Deutschland.

Welche Chancen ergeben sich aus der Digitalisierung in Gesundheitswesen und Medizin?

Prof. Dr. Hagen Pfundner: Ich würde das gerne an einem Beispiel zeigen: Viele von uns nutzen Google Maps und stellen ihre Daten zur Verfügung. Dadurch werden Verkehrsströme erkennbar. Wenn irgendwo ein Stau ist, werden Alternativrouten sichtbar. Das aber geht nur, weil viele ihre Daten teilen. Dasselbe gilt auch für Krankheitsgeschehen: Wenn viele ihre Daten bereitstellen – auch die, die gesund sind – dann kann im Falle einer Krankheit ein Abgleich gemacht werden; im Grunde wie bei einem Stau in Google Maps. So kann man beispielsweise feststellen, wie andere diese Krankheit erfolgreich gemeistert haben und welche Behandlung erfolgreich war.

Das heißt: Gesundheitsdaten teilen schafft Lösungsoptionen?

Pfundner: Genau. Hier ist es das Umfahren eines Staus oder Unfalls, dort das erfolgreiche Behandeln einer Krankheit. Und damit ergibt sich die Chance einer besseren Gesundheitsversorgung.

Nun ist gerade Google für viele Menschen das Paradebeispiel einer Datenkrake…

Prof. Dr. Hagen Pfundner, Roche Pharma. Foto: ©Roche Pharma
Prof. Dr. Hagen Pfundner, Roche Pharma. Foto: ©Roche Pharma

Pfundner: Ja, das ist mir bewusst und ich plädiere auch nicht für einen lockeren Datenschutz – ganz im Gegenteil. Was ich sagen will: Jeder nutzt es. Eben weil der Nutzen so groß ist und genau das wünsche ich mir – bei entsprechendem Datenschutz – eben auch im Bereich Gesundheit. Das Versprechen der Digitalisierung liegt in einer besseren, schnelleren und wohnortunabhängigen Gesundheitsversorgung. Denn die Datennutzung bereichert unser Wissen. Dieses Wissen gibt uns die Möglichkeit, eine Patientin oder einen Patienten ganz gezielt zu behandeln: In den Daten finden wir die Information, wie ein Betroffener sein Gesundheitsproblem am besten umfahren und managen kann, je nachdem, wo er sich gerade im Stadium der Erkrankung befindet. Die zielgerichtete, personalisierte Therapie ist ohne die Digitalisierung gar nicht möglich. Wir nennen das eine Wissen generierende Versorgung.

Wofür brauchen wir denn eine wohnortunabhängige Versorgung?

Pfundner: Schauen Sie auf die Telemedizin. Wir haben in Deutschland Zentren und universitäre Einrichtungen, in denen Spitzenmedizin gemacht wird. Die Digitalisierung kann uns helfen, die Expertise von diesen Spitzenzentren in die Fläche, d.h. auch in ländliche Regionen, zu tragen. Wo ich wohne, wird für die Qualität meiner Gesundheitsversorgung völlig irrelevant: Ich kann das Wissen eines Spitzenzentrums anzapfen, auch wenn ich bei meinem Onkologen auf der Schwäbischen Alp sitze und dieses Wissen fließt in meine Behandlung ein. Der Patient, die Patientin muss gar nicht mehr in die spezialisierte Einrichtung fahren, denn ich kann die Diagnostik digital verarbeiten und in die Zentren geben. Dort werden sie von Expertinnen und Experten in so genannten virtuellen Tumorboards analysiert. Das geht dann zurück an meinen Arzt, der damit die Therapie optimieren kann.

Heidelberg oder Tübingen ist dann überall?

Pfundner: Überall. Dafür gibt es heute „Remote Diagnostics“: Ich kann in der Praxis am Wohnort meine Blut- und Gewebeproben nehmen, sie digital verarbeiten, verschicken und überall auf der Welt analysieren lassen. Aber wir nutzen das zu wenig. Wenn ich die Daten an einem Knotenpunkt zusammenführe, dann habe ich die riesige Chance, dass die Spitzenzentren das Wissen aus ganz vielen Knotenpunkten sammeln und verarbeiten können, die das wiederum meinem Onkologen zur Verfügung stellen können. Der kann dieses Wissen gar nicht haben, weil er nur eine begrenzte Anzahl von Patienten hat. Das ist die Grundlage dafür, dass wir schneller, zielgerichteter und effektiver behandeln können – und das zu vertretbaren Kosten, weil der Aufwand geringer ist. Die Digitalisierung funktioniert als Brücke zwischen der Spitzenmedizin und dem ländlichen Raum.

Und ist keine Einbahnstraße, oder?

Daten teilen fördert Wissensbildung. Foto: CC0 (Stencil)
Daten teilen fördert Wissensbildung. Foto: CC0 (Stencil)

Pfundner: Das ist genau der Punkt. Wenn ich meine Daten teile, kann ich einen Beitrag leisten, dass die Behandlung auch für andere besser wird, denn ich fördere Wissensbildung. Gleichzeitig profitiere ich davon, dass andere das auch tun. In das Knotenpunktwissen können Informationen einfließen, die aus einer weltweiten Datenbank kommen. Wenn ich also zwanzig Fälle einer besonderen onkologischen Diagnose habe und kann die mit zweitausend Fällen abgleichen, die ähnlich gelagert sind, und schauen, was erfolgreich war und was nicht, ist das Grundlage für eine bessere Krebsbekämpfung.

Durch die Digitalisierung wird der Onkologe, die Onkologin auf der Schwäbischen Alb…

Pfundner: …besser. Aber wichtig ist auch: Er wird aber weiterhin gebraucht, denn die Behandlung hat immer auch soziale Aspekte. Eine Krebsbehandlung ist mehr als nur das Managen von Gesundheitsparametern. Es gibt schon einige Pilotprojekte, die wir auch unterstützen, die erst am Anfang stehen und in denen genau das versucht wird: Den Medizinern in der Fläche dieses Spitzenwissen zur Verfügung zu stellen. Warum das wichtig ist? Weil rund die Hälfte der Krebspatientinnen und -patienten nicht in Spitzenzentren behandelt werden, aber dieselbe Chance auf eine Spitzenbehandlung bekommen sollen.

Wo stehen wir in Deutschland, wenn wir über die Digitalisierung im Gesundheitswesen reden?

Pfundner: Wir nehmen einen der hintersten Plätze ein. Wir haben ein sehr von Partikularinteressen gesteuertes System: Jeder hat sein Excel-Factsheet. Das eigentliche Problem ist nicht, dass es keine Daten gibt – denn die gibt es. Das Problem sind die fehlenden Annotationen. Will sagen: Die Berichte der Ärztinnen und Ärzte zum Verlauf der Krankheit und wie die Dinge zusammenhängen – die werden nicht systematisch erfasst. Das Problem ist nicht der Dateninput, sondern die Herausforderung, diese Daten so zu strukturieren, dass man aus Ihnen Erkenntnisse ziehen kann, d.h. dass Daten Sinn machen. Das wird bei unterschiedlichen Exel-Factsheets natürlich schwierig.

Woran liegts?

Pfundner: Aus meiner Sicht ist das in Deutschland noch sehr ideologisch verklärt. Wir haben bisher vor allem über die Bedeutung der Digitalisierung diskutiert, aber eigentlich gar nicht über die Frage, was gemacht werden müsste, damit es funktioniert. Außerdem haben wir immer noch viele technische und rechtliche Hürden, um die wissensgenerierende Versorgung echt nutzen zu können. Die Hoffnung ist, dass da die Pandemie unterstützend wirkt.

Inwiefern?

Beschleunigte Digitalisierung durch Coronavirus-Pandemie. 
Foto: ©iStock.com/Natali_Mis
Beschleunigte Digitalisierung durch Coronavirus-Pandemie.
Foto: ©iStock.com/Natali_Mis

Pfundner: Die Pandemie hat die Digitalisierung beschleunigt, aber wir führen eine intellektuelle Diskussion darüber, was der Datenschutz erlaubt und was nicht. Gleichzeitig hat ein Land wie Südkorea nur verschwindend geringe Coronavirus-Infizierte, weil jedes Bewegungsmuster ausgewertet wird: Wenn sich mein Weg mit jemandem kreuzt, der infiziert ist, werde ich sofort unterrichtet. Das nennt man bei uns den totalen Überwachungsstaat, aber wenn ich eine Pandemie oder eine Krankheit in den Griff bekommen will, sind die, die betroffen sind, die allerersten, die bereit sind, solche Informationen zur Verfügung zu stellen. Eben weil es auch um Leben und Tod geht.

Aber es hat sich ja einiges getan in den vergangenen Monaten.

Pfundner: Ja, das stimmt. Allerdings haben wir in Deutschland die besondere Herausforderung des Föderalismus, der sich nicht nur in der Pandemie, sondern auch bei der Digitalisierung als eine Sollbruchstelle herausstellt. Wir haben Landesdatenschutzgesetze unterschiedlicher Ausprägungen, wir haben Landeskrankenhausgesetze, wir haben unterschiedliches Kirchenrecht, was bei von den Kirchen getragenen Kliniken relevant ist. Das heißt: Wenn ich ein Datenerhebungsprojekt machen möchte, muss ich mich für ein Bundesland entscheiden und dann klären, welche Trägerschaft dahintersteckt, weil ich mit anderen vielleicht gar nicht kooperieren kann. Das immerhin ist erkannt worden – angestrebt ist gesetzlich eine Harmonisierung der Landesgesetze und die Etablierung einer für das Projekt federführenden Landesschutzbehörde.

Ich habe dann also einen Ansprechpartner und andere Bundesländer sind bei einem solchen Projekt sozusagen gleichzeitig mit an Bord?

Pfundner: So ist das in dem Gesetz angelegt. Aber jetzt geht es um die Umsetzung – und das ist nach wie vor nicht erledigt. Hinzu kommt ein weiteres Dilemma: Wir unterscheiden in Deutschland stark zwischen öffentlich-rechtlicher und privater Forschung. Wir Privaten sind zurzeit explizit von Zugängen zu bestimmten Datenzentren ausgeschlossen und können Datenprojekte nur in Kooperation mit anderen Partnern beantragen. Das ist ein echter Wettbewerbsnachteil für Deutschland und ein Punkt, in dem wir uns von anderen wie Finnland, Dänemark oder Estland unterscheiden. Deshalb hinken wir denjenigen hinterher, die dieselben Datenschutzgrundverordnungen haben wie wir, aber ganz anders damit umgehen. Eben, weil sie Forschung vorantreiben wollen.

Warum ist das für Sie so wichtig?

Pfundner: Weil es die Gesundheitsindustrie – eine Leitindustrie des 21. Jahrhunderts – vom Zugang zu Gesundheitsdaten ausschließt. Dabei haben wir kein Interesse an Personen bezogenen Daten. Es interessiert uns gar nicht, ob das Herr Müller oder Frau Schulze ist. Uns geht es darum, Muster zu erkennen: Wir wollen wissen, ob eine Behandlungsstrategie bei Patientinnen und Patienten mit einer gewissen Vorerkrankung wirkt oder nicht. In den Mustern suchen wir nach Lösungen, um künftig noch besser in der Behandlung von Krankheiten zu werden. Wo Herr Müller wohnt, welche Augenfarbe Frau Schulze hat, interessiert uns gar nicht. Es gibt bezeichnenderweise auch keine mit Datenschutz begründete Hürde, warum Unternehmen wie wir nicht auch mit diesen Daten forschen sollten – vor allem, weil wir auch die Produkte entwickeln. Aber es gibt eine ideologische Hürde.

Können wir verlorenes Terrain noch gut machen oder ist der Zug schon abgefahren?

Daten treiben die Forschung voran. 
Foto: ©iStock.com/gorodenkoff
Daten treiben die Forschung voran.
Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Pfundner: Es gibt Länder, die verglichen mit uns einen hohen Grad an Digitalisierung haben und deshalb in einer besseren Startposition sind. Aber es gibt noch kein Land, dem es gelungen ist, aus Gesundheitsdaten systematisch Sinn zu machen. Deshalb hat Deutschland nach wie vor eine Chance. Aber wir müssen natürlich in hohem Tempo die technischen Voraussetzungen dafür schaffen.

Wagen wir doch mal einen Blick in den Kaffeesatz: Mit einem höheren Grad an Digitalisierung und einem ideologiefreieren Blick darauf – wäre die Pandemie anders verlaufen?

Pfundner: Ich denke schon. Wir hätten Leben gerettet – das sieht man ja in den Ländern, die verstärkt auf digitale Nachverfolgung gesetzt haben. Und wir hätten die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen minimieren können; Stichworte: Lockdown oder Einfluss auf die Wirtschaft. Es hätte eine geringere Dunkelziffer gegeben. So kann man schneller in die Quarantäne und schneller wieder heraus, besser und früher intervenieren und behandeln. Die Technologien sind alle da: Wir haben Tests, wir haben Impfstoffe, wir haben Medikamente. Aber das digitale Wissen – das nutzen wir nicht. Das aber ist der Schlüssel zu einem besseren Pandemie-Management. Oder eben für bessere Krankheitsversorgung. Die Pandemie zeigt: Wir brauchen einen pragmatischen Umgang mit dem Datenschutz.

Würden Sie sagen, dass die Art und Weise, wie wir den Datenschutz momentan interpretieren, dem Schutz von Patientinnen und Patienten zuwiderläuft?

Pfundner: Man kann den Datenschutz nicht für alles verantwortlich machen. Aber falschverstandener Datenschutz macht es sicher nicht leichter. Datenschutz ist immer ein Abwägen. Und dieses Abwägen ist bei uns ideologisch aufgeladen. Schauen wir in die USA: Dort wird Facebook oder LinkedIn genutzt, um die Impfstoffe zu verimpfen, die irgendwo im Kühlregal liegen. Wenn ein Impfzentrum um 23 Uhr feststellt, es sind noch 2.000 Dosen da, die es normalerweise nicht mehr wegbekommen würde, kann es gezielt Impfinteressierte in der Umgebung ansprechen. Sprich: Die nutzen die Technologie, die da ist, um eine Durchimpfung schneller hinzukriegen. Ich fürchte bei uns würde eher darüber diskutiert, was Facebook jetzt alles mit den Daten anstellen könnte.

Wenn der Nutzen der Digitalisierung so groß ist, wie Sie sagen: Brauchen wir vielleicht einen Patientenschutzbeauftragten, der die Interessen der Patientinnen und Patienten in der Abwägung zum Datenschutz besser artikulieren kann?

In der Forschung: Kooperationen sind essenziell. Foto: ©iStock.com/AndreyPopov
In der Forschung: Kooperationen sind essenziell. Foto: ©iStock.com/AndreyPopov

Pfundner: Ich persönlich glaube an solche Modelle nicht. Die Daten gehören den Bürgerinnen und Bürgern. Die haben die Hoheit und die informationelle Selbstbestimmung. Die Frage ist eher: Was tun wir, um die Menschen zu befähigen, dass sie mit ihren Gesundheitsdaten perspektivisch umgehen? Wir wissen ja: Betroffene gehen ganz anders mit Daten um als die, die gesund sind. Was wir brauchen, ist eine stärkere Beteiligung der Patienten selbst. Einfach, damit wir eine bessere Gesundheitsversorgung auf die Beine stellen können. Leider wird in der öffentlichen Diskussion das Bild vermittelt, dass die pharmazeutische Industrie nur aus Gewinnstreben an Daten interessiert ist, während öffentlich-rechtliche Strukturen als Garant der freien Forschung gelten. Das hilft nicht weiter. Wir brauchen mehr Kooperation – wir entwickeln ja auch neue Medikamente in Kooperation mit Institutionen aus dem öffentlichen Leben.

Stichwort Kooperationen: Die haben in der Pandemie stark zugenommen. Wie wichtig sind sie?

Pfundner: Aus meiner Sicht sind sie essenziell. Es geht ja nicht nur um die Frage: Was habe ich da entwickelt und erfunden? Es geht vielmehr darum, wie ich die Erkenntnisse schnell zum Patienten oder zur Patientin bekomme. Es ist ja toll, wenn es mir gelingt, schnell einen Impfstoff zu erfinden. Aber wenn es mir dann nicht gelingt, in kürzester Zeit gigantische Mengen herzustellen, ist die Pandemie vielleicht vorbei, bevor die Impfkampagne richtig angerollt ist. Das aber dann zu einem hohen Preis – nämlich auf Kosten vieler Menschenleben. Dies ist ein Beispiel, das zeigt: Wir können uns den Luxus, auf Kooperationen zu verzichten gar nicht leisten. Sie ermöglichen es uns, aus der Forschungsblase herauszukommen, denn am Ende geht es darum, dass wir Menschen behandeln können.

Zurück zur Digitalisierung: Was müsste passieren? Wie kommen wir in Deutschland voran?

Pfundner: Wir müssen den Datenschutz im Gesundheitswesen lösungsoffen diskutieren und stärker Nutzen und Risiken abwägen – diese Diskussion findet im Grunde nicht statt. Wir brauchen eine Harmonisierung der Datenschutzgesetze, denn das ist die Voraussetzung, dass datengetriebene Projekte überhaupt entwickelt werden können. Gleichzeitig müssen wir die Datenschutzbehörden in den Ländern stärken, denn die haben das Thema Gesundheit noch gar nicht richtig auf dem Schirm – auch weil sie überlastet sind. Für den Bereich Gesundheit gibt es eigentlich keine Datenschutzkompetenz, die aber dringend aufgebaut werden muss. Da gehört auch die Ethikberatung mit rein – die ich für sehr wichtig halte. Und: Wir brauchen den gleichberechtigen Zugang zu Forschungsdaten. Wenn es nicht gelingt, die private Forschung mit einzubinden, dann haben wir den Anschluss verloren. Und werden innovative Produkte aus anderen Ländern kaufen müssen, statt sie selbst zu entwickeln.

Welche Rolle sehen Sie bei der pharmazeutischen Industrie? Was ist Ihr Angebot?

Pfundner: Ich will das an einem Thema zuspitzen und das heißt Pfizer und Israel und die dortige Impfstoff-Kampagne. Wir haben Wissenslücken über die Wirksamkeit und Verträglichkeit bei der massenhaften Anwendung eines Impfstoffs – denn das Virus ist neu, der Impfstoff ist neu, alles ist neu. Hier kommt ein Land, eine öffentlich-rechtliche Institution, das mit einem Industrieunternehmen kooperiert und sagt: Wir erheben jetzt gemeinsam Daten. Das ist ein Novum: Aus diesen Daten aus Israel lernt die Welt, wie wir mit dem BioNTech-Pfizer-Impfstoff umgehen können. Wie häufig muss geimpft werden? Welche Nebenwirkungen treten auf? Sind Geimpfte infektiös oder nicht? All das kann man da jetzt lernen. Und wie heißt in Deutschland die Headline? „Pfizer kauft sich Daten in Israel.“ Aus diesem kleinen Land lernt jetzt die Welt, wie man die Pandemie wirksam bekämpft. Es sind solche Kooperationen, die auch auf andere Krankheitsbilder übertragbar wären, aber sowas ist bei uns – zumindest jetzt noch – unvorstellbar. Aber das wäre das Angebot: Gemeinsam eine wissensgenerierende Versorgung aufbauen.

Ziel: Sinnvolles Verknüpfen von Gesundheitsdaten. Foto: ©iStock.com/SOMKID THONGDEE
Ziel: Sinnvolles Verknüpfen von Gesundheitsdaten. Foto: ©iStock.com/SOMKID THONGDEE

Die Geschichte aus Israel zeigt auch: Das ist Forschung auf der Überholspur…

Pfundner: Das ist es. So schnell kann man gar nicht lernen. In normalen Zeiten würde so etwas sechs oder sieben Jahre dauern. Das ist Forschung im Zeitraffer – und wird uns in kürzester Zeit gigantisches Wissen liefern. Übertragen wir das mal in Gedanken auf andere Krankheitsgebiete: Die Hoffnung von Menschen mit schweren Erkrankungen auf bessere Therapien und vielleicht sogar auf Heilung liegt auf dem sinnvollen Verknüpfen von Gesundheitsdaten und auf ideologiefreien Kooperationen im Sinne einer besseren Versorgung. Was anderes kann doch keiner wollen.

Was passiert, wenn sich Deutschland in diese Richtung nicht bewegt?

Pfundner: Als Vertreter eines global aufgestellten Unternehmens kann ich Ihnen sagen: Die Technologien werden entwickelt werden. Die Patientenversorgung wird besser werden. Die Wertschöpfung und der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn werden allerdings woanders stattfinden. Diesen Technologievorsprung wieder aufzuholen, wird sehr schwierig sein.

Allerdings hat die Pandemie auch gezeigt, was Deutschland kann: Der erste Test, der erste Impfstoff sind hier entwickelt worden. Ein bisschen „Apotheke der Welt“ sind wir anscheinend noch?

Pfundner: Beispiele, die zeigen: Wir haben die Technologien. Wir sind nicht arm an Wissen, aber wir sind arm in der Umsetzung. Und das ist ein Trend, der sich beschleunigen wird, wenn wir nicht entschieden gegensteuern. Sonst werden wir die Technologieführerschaft in der Gesundheit mittelfristig abgeben. Der Zug ist noch nicht abgefahren, aber viel Zeit bleibt uns nicht mehr.

Das Interview wurde anlässlich des Symposiums „Vision Zero – Die Neuvermessung der Onkologie“ geführt und erstmalig in der Tagungsbroschüre im Juni 2021 veröffentlicht.

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