Wenn Menschen auf der Intensivstation ankommen, zählt oft jede Sekunde. Und es stellen sich Fragen, die schnelle Antworten verlangen: Leidet dieser Patient unter Vorerkrankungen? Allergien? Unverträglichkeiten? Ein schneller Datenzugriff könnte in solchen Fällen tatsächlich Leben retten, was aber, „den meisten Leuten nicht klar“ sei – erklärte Moderator Dr. Dominik Pförringer, der als Orthopäde und Digital Health Experte am Klinikum Rechts der Isar in München arbeitet. „Wir stellen unsere Daten im Internet bereit“, so Pförringer, aber dann, wenn es wirklich drauf ankomme, lägen sie nicht vor oder könnten nicht genutzt werden. Doch wie lässt sich das ändern? Und was genau muss sich ändern, damit wahr wird, was der Titel der hybriden Veranstaltung verspricht: „Daten schützen Leben!“
Zunächst kamen Experten aus Ländern zu Wort, die in Sachen „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ wesentlich besser dastehen als Deutschland: Schweden. Und Österreich.
Schweden: Impfregister und Datenbank zu 60 Krankheiten
Der schwedische Staatsepidemiologe Dr. Nils Anders Tegnell berichtete, dass es in seinem Land ähnlich föderale Strukturen gibt wie in der Bundesrepublik, mit 290 „Municipalities“, also Gemeindegebieten und 21 Regionen mit „Country Medical Officers“ – aber es gibt eben nur eine „Public Health Agency“, eine Behörde für öffentliche Gesundheit, bei der alle Fäden zusammenlaufen und die in der Bevölkerung große Zustimmung erfährt. Diese Agency ist zuständig für das nationale Impfregister und für eine nationale Datenbank zu 60 verschiedenen Krankheiten. Zudem koordiniert sie Präventionsmaßnahmen für Infektionskrankheiten und Maßnahmen im Kampf gegen eine Pandemie wie Covid-19. Letztere brachten Tegnell viel Kritik ein, weil Schweden einige Zeit einen recht lockeren „Sonderweg“ beschritt, der zu bislang 1,1 Millionen Corona-Fällen und 14.800 Corona-Toten führte. Inzwischen aber verzeichnet Schweden im europäischen Vergleich eine niedrige 14-Tage-Inzidenz und auch eine vergleichsweise niedrige Sterberate. Der Grund dafür ist einfach: Die Impfquote in Schweden ist hoch und liegt in der Altersgruppe über 50 durchgängig bei klar über 80 Prozent.
Österreich: Elektronische Gesundheitsakte seit zehn Jahren
Von solchen Impfquoten sind Österreich und Deutschland weit entfernt. Aber Österreich zumindest weist bei der Digitalisierung einige Ähnlichkeiten mit Schweden auf: „Bei uns gab es eine Verwaltungsänderung“, berichtete Dr. Winfried Pinggera, Generaldirektor der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt, „statt vielen kleinen gibt es jetzt nur noch eine große Gesundheitskasse.“ Mit der Folge, dass es jetzt „statt 16 Rechenzentren nur noch einen Standort gibt, an dem Gesundheitsdaten zusammengeführt werden.“ Österreich hat zudem vor mehr als zehn Jahren eine elektronische Gesundheitsakte eingeführt, auf deren Daten alle Behandelnden Zugriff haben – Patient:innen können die Daten aus dieser Akte ganz oder teilweise entfernen, zum Beispiel, wenn sie einen positiven HIV-Befund für sich behalten wollen.
Der Verwaltungsjurist Pinggera betonte: „Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts.“ Es gebe hier eine Goldgräberstimmung, die aber irgendwann vorbei sei und keinesfalls „ein zerstörtes Land“ hinterlassen dürfe. Deswegen müsse die Sicht des Patienten ebenso berücksichtigt werden wie die Wünsche der Forschenden. „Wenn etwas Neues kommt, fürchten sich alle, das war bei der Dampfmaschine so, beim Strom und jetzt eben bei Big Data.“ Deshalb komme es entscheidend darauf an, den Menschen klar zu machen, welchen Nutzen sie auch persönlich von der Verwendung ihrer Daten haben: Unterstützung bei Diagnostik und Therapie, ebenso bei bildgebenden Verfahren etwa in der Radiologie – oder auch ein frühzeitiges Erkennen von Pandemien und damit bessere Chancen für eine schnelle Eindämmung. Pinggera beendete seinen Vortrag mit dem Bild einer Cannabis-Pflanze und einer klaren Aufforderung zur Datennutzung: „Legalize it!“
Deutschland: Es fehlen einheitliche Datennetzwerke und Register
In der anschließenden Diskussion plädierte Prof. Steffen Weber-Carstens von der Berliner Charité dafür, ein großes, einheitliches Datennetzwerk zu etablieren. „Wir haben viele kleine Königreiche, aber wir brauchen die Bereitschaft, Daten zu synchronisieren.” Dies müsse „zentral koordiniert“ werden, so, wie es in Schweden oder auch in England sehr erfolgreich praktiziert werde. Ein erfolgreiches Beispiel gibt es in Berlin: „Dort haben wir 38 Notfall-Kliniken vernetzt“ – dadurch sei es während der Corona-Pandemie gelungen, Patient:innen immer dorthin zu verlegen, wo sie am besten behandelt werden konnten. „So etwas muss in ganz Deutschland etabliert werden“, forderte das Mitglied der erweiterten Charité-Klinikleitung, „wir müssen Daten in einem großen Netzwerk nutzen.“
Prof. Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie am Helmholtz-Zentrum München, forderte zudem den Aufbau nationaler Register, etwa Transplantations- und Krebsregister. „Wir schauen mit Neid auf englische Daten“, so Protzer, „bis hin zu Long Covid-Daten, sowas fehlt in Deutschland komplett.“ Darüber hinaus sei auch eine bessere „Infrastruktur für den Datentransfer“ bitter nötig: „Ich erinnere mich, dass wir am Anfang der Pandemie unsere Befunde gefaxt haben“ – und am Wochenende sei das Fax am anderen Ende der Leitung ausgeschaltet gewesen. Inzwischen gebe es elektronische Übertragungswege, aber es bleibe dabei: „Wir müssen eine Infrastruktur für den Datentransfer aufbauen.“
Datenschutz neu denken
Walter Jonas, Präsident des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, regte an „Datenschutz neu zu denken“ und nicht weiter auf dem „Grundprinzip der Sparsamkeit der Datenhaltung“ zu beharren. Allerdings müsse auch die „Datenkompetenz“ der Menschen gestärkt werden: „Sie müssen erkennen, dass ein Mehrwert entsteht – und wir müssen die Sachverhalte so präsentieren, dass die Menschen es auch verstehen.“
Dem konnte Prof. Jörg Debatin nur zustimmen, Leiter des Health Innovation Hub im Bundesministerium für Gesundheit: „Wir müssen den Nutzen klar machen.“ Nicht nur die Infrastruktur sollte nach Debatins Worten neu gedacht werden, sondern auch „die Einstellung“. So müssten die Leitenden der Gesundheitsämter ihre Faxe auch ersetzen, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. Debatin setzte sich außerdem dafür ein, dass künftig nicht mehr 17 Landesdatenschützer über Schutz und Nutzung von Daten entscheiden, sondern ein Bundesdatenschützer: „Ich wünsche mir nicht 17, die sagen, was nicht geht, sondern einen, der sagt, wie es geht.“
Die Zusammenfassung lieferte Kongresspräsident Karl Max Einhäupl in weiser Voraussicht schon bei seinem Grußwort: „Wir haben in Deutschland ein riesiges Problem bei der Digitalisierung – aber es ist kein Erkenntnisproblem, sondern ein Problem der Umsetzung.“