Wo stehen wir HEUTE in der Prävention und Behandlung der Migräne?
Dr. Simone Hiltl: Die Migräne ist eine ernstzunehmende, stark beeinträchtigende neurologische Erkrankung, die sich auf alle Aspekte des Lebens auswirkt – vom Beruf bis zur gemeinsamen Zeit mit Familie und Freunden. Das Fatale: Sie entwickelt sich oft schleichend, sodass die individuell tolerierbare Schmerzgrenze immer stärker aufgeweicht wird. Dadurch entwickelt sich bei den Betroffenen auch häufig ein Schmerzmittelübergebrauch. In Deutschland gibt es eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen, sodass mehr als 40 Prozent der Erkrankten nicht diagnostiziert werden. Der Zweck einer zielgerichteten Migräne-Prophylaxe ist es, der Entstehung von Attacken vorzubeugen, anstatt erst auf die Attacken zu reagieren. Dadurch kann der individuelle Leidensdruck der Migräne-Patienten gesenkt und zeitgleich mehr Lebensqualität ermöglicht werden.
Das Mittel der Wahl ist eine multimodale Therapie – eine Kombination aus medikamentösen und nicht-medikamentösen therapeutischen Ansätzen.
In der Therapie der Migräne hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt. CGRP – das Calcitonin-Gene-related-Peptide – steht dabei als therapeutisches Target im Fokus, da es eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Migräne spielt. Seit 2018 stehen speziell für die prophylaktische Behandlung der Migräneerkrankung entwickelte monoklonale Antikörper zur Verfügung, die auf die Blockade des CGRP-Rezeptors oder von CGRP selbst abzielen. Mittlerweile liegen für einzelne Substanzen auch Langzeitdaten vor, die die Wirksamkeit als auch die Verträglichkeit über einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren belegen. Zurzeit kann die Anwendung dieser spezifischen monoklonalen Antikörper zur Migräneprophylaxe jedoch erst nach erfolglosen Vortherapien verordnet werden. So haben sich insgesamt die Behandlungsmöglichkeiten für die Migräneerkrankung merklich verbessert.
Wie war das GESTERN bzw. in der Vergangenheit?
Hiltl: Die Entwicklung eines spezifischen Migräneprophylaktikums war ein Novum. Alle anderen, bisher verfügbaren und für diese Indikation zugelassenen Arzneimittel, wie z. B. Betablocker, Antidepressiva oder Antiepileptika, wurden ursprünglich für andere Indikationen entwickelt. Diese Therapien sind häufig mit Nebenwirkungen assoziiert, weswegen viele Patienten die Medikamente vorzeitig absetzen. Das Ziel einer Verbesserung der Lebensqualität konnten die Patienten daher leider nur bedingt erreichen und standen einer vorbeugenden Behandlung eher ablehnend gegenüber.
Genau hier liegt auch der Vorteil der spezifischen Prophylaktika, die über ein gutes Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil verfügen. Diese erlauben es den Patienten länger auf Therapie zu bleiben.
Werfen wir einen Blick auf das ÜBERMORGEN: Wie könnte die Zukunft im Bereich der Migräne aussehen?
Hiltl: Trotz großer Fortschritte in der Behandlung der Migräneerkrankung müssen wir weiterhin daran arbeiten, Informations- und Versorgungslücken durch Aufklärung gemeinsam mit Ärzten und Forschung zu schließen. Unsere Forschung konzentriert sich zudem darauf, Kindern und Jugendlichen, die mit Migräne leben, zu helfen. Insbesondere da vier bis fünf Prozent von ihnen von Migräne betroffen sind und die Auswirkungen in alle Lebensbereiche ausstrahlen: Schule, Ausbildung, Freizeit, Freundeskreis.
Es ist uns ein besonderes Anliegen, allen Migräne-Betroffenen aus verschiedenen Altersgruppen Zugang zu effektiver Therapie zu ermöglichen und deren Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen.
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