Wir haben mit Prof. Konrad Reinhart  Vorsitzender der Sepsis-Stiftung  darüber gesprochen  weshalb Reformen im deutschen Gesundheitssystem überfällig sind. Foto: ©iStock.com/Spotmatik
Wir haben mit Prof. Konrad Reinhart Vorsitzender der Sepsis-Stiftung darüber gesprochen weshalb Reformen im deutschen Gesundheitssystem überfällig sind. Foto: ©iStock.com/Spotmatik

Das deutsche Gesundheitssystem braucht Reformen – jetzt

Ärzt:innen, Forschende, Pflegende, Patient:innen und weitere Akteure des Gesundheitssystems und der Zivilgesellschaft haben einen 12-Punkte-Appell veröffentlicht, in dem sie eine rasche und grundlegende Reform des Gesundheitswesens fordern. Im zweiten Teil unseres Interviews geht Prof. Konrad Reinhart, Vorsitzender der Sepsis-Stiftung, auf die Hauptprobleme des Gesundheitswesens in Deutschland ein.

Herr Prof. Reinhart, Sie schreiben in Ihrem Appell zur Reform des Gesundheitswesens von einer ökonomischen Fehlsteuerung, die es in unserem Gesundheitssystem gibt. Was ist damit gemeint?

Prof. Konrad Reinhart. 
Foto: Leopoldina, Halle/Germany
Prof. Konrad Reinhart.
Foto: Leopoldina, Halle/Germany

Prof. Konrad Reinhart: Einfach gesagt: Krankenhäuser werden für das bezahlt, was sie machen – nicht unbedingt für das, was wirklich nötig wäre und nicht entsprechend der Qualität ihrer Leistung. Wir stehen im internationalen Vergleich bei Eingriffen an der Wirbelsäule oder beim Gelenkersatz an der Spitze. Nicht immer ist eine Operation die beste Behandlungsmethode für derartige Beschwerden, sie ist jedoch die profitabelste und viele Krankenhäuser kämpfen ums Überleben. Ein anderes Beispiel für einen Fehlanreiz gibt es in der Intensivmedizin, wo etwa die Beatmungsdauer und die intensivmedizinische Komplexbehandlung zu einem Hauptvergütungskriterium gemacht wurde. Eine schlechte komplikationsbehaftete Operation oder eine auf der Normalstation zu spät erkannte Komplikation wie Sepsis oder Herzkreislaufversagen, die anschließend eine lange Beatmungsdauer erforderlich macht, „lohnt“ sich also für das Krankenhaus. In anderen Gesundheitssystemen werden überdurchschnittliche Komplikationsraten mit finanziellen Sanktionen belegt, da wird deren Behandlung dann nicht vergütet.

Stimmt es, dass die Zahl der Patient:innen kontinuierlich zunimmt, die auf den Intensivstationen sterben?

Reinhart: Leider gibt es diese ethisch äußerst fragwürdige Entwicklung. Relativ zu der Zahl der Patienten, die im Krankenhaus versterben, hat der Anteil der auf einer Intensivstation Verstorbenen über die letzten Jahre ständig zugenommen. Zu dieser „Übertherapie“ hat jüngst auch die Ethik Sektion der DIVI Stellung genommen. Dieses sich für die Krankenhäuser finanziell lohnende Phänomen hat mit dazu beigetragen – bzw. ist eine Folge dessen – dass weltweit kein Land mehr Intensivbetten betreibt als Deutschland. Dies trägt dazu bei, dass mehr als 20 Prozent der deutschen Krankenhauskosten auf Menschen entfallen, die binnen eines Jahres sterben. In den Niederlanden sind es weniger als neun Prozent. Auch deshalb sind wir bei den pro-Kopf-Kosten für das Gesundheitssystem europäischer Spitzenreiter.

Dass unser Gesundheitssystem im internationalen Vergleich zu wenig auf die Vermeidung von Erkrankungen und Komplikationen fokussiert ist, zeigt sich nicht nur in den vergleichsweise niedrigen Impfraten. In den deutschen Kliniken gibt es zum Beispiel jährlich circa 30.000 Herzstillstände, von denen die Mehrheit als vermeidbar gilt. Über ein Drittel davon ereignet sich unbeobachtet vom medizinischen Personal. Aus diesem Grund gibt es in vielen vergleichbaren Ländern eine systematische Schulung des gesamten medizinischen Personals in der Früherkennung der Entwicklung von akut lebensbedrohlichen medizinischen Situationen. Parallel dazu verfügen sie krankenhausweit über Alarmierungssysteme für die Hinzuziehung medizinischer Notfallteams (Rapid Response Teams) in der Frühphase solcher Entwicklungen.

Welche Effekte hatte die Einführung dieser vorbeugenden Qualitätssicherungsmaßnahmen?

Forderung: Hocheffektive Qualitätssicherungsmaßnahmen für deutsche Krankenhäuser. Foto: ©iStock.com/Spotmatik
Forderung: Hocheffektive Qualitätssicherungsmaßnahmen für deutsche Krankenhäuser. Foto: ©iStock.com/Spotmatik

Reinhart: Die Einführung dieses inzwischen für alle Krankenhäuser Australiens verbindlichen Qualitätsstandards in New South Wales vor 15 Jahren hat dort zu einer Reduzierung der Häufigkeit von Herzstillständen um fast 50 Prozent und zu einer Steigerung der Überlebenschancen bei einem Herzstillstand um über 50 Prozent geführt. Dies hat auch zu einem Rückgang der durchschnittlichen Gesamtkrankenhaussterblichkeit um 19 Prozent beigetragen. In den USA, England und vielen anderen angelsächsisch geprägten Ländern ist die systematische Schulung in der Früherkennung und -behandlung von akut kritisch Kranken inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Aus diesem Grund richtet der Appell die dringende Forderung an den Gesetzgeber, die Einführung dieser hocheffektiven Qualitätssicherungsmaßnahmen zeitnah auch für die deutschen Krankenhäuser verbindlich zu machen.

Wie wichtig ist die kürzlich erfolgte Einführung einer elektronischen Patientenakte?    

Reinhart: Das gehört zu unseren Grundforderungen. Denn es gilt, was man nicht messen kann, kann man nicht verbessern. Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Datenlage zur Häufigkeit und Sterblichkeit für die meisten Erkrankungen in Deutschland miserabel ist. Aber der Datenraum muss natürlich den ambulanten und den stationären Bereich umfassen und beide Bereiche eng miteinander verbinden – davon sind wir im Moment noch weit entfernt. Finnland hat es vorgemacht, dort hat jeder Mensch und jeder Behandler vollen Zugang zu den relevanten Gesundheitsdaten. Dort ist es offensichtlich gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, dass dies nicht nur im besten Interesse für ihre eigene Gesundheit, sondern auch für den medizinischen Fortschritt für alle ist.

Worin liegt das Hauptproblem des Gesundheitswesens in Deutschland?

Reinhart: Dass es zu stark ökonomisch getrieben und gleichzeitig aber wenig kosteneffektiv ist. Durch die Orientierung an wirtschaftlichen Aspekten aber steht das Patientenwohl nicht mehr im Mittelpunkt. Kulturell hat das deutsche Gesundheitssystem immer noch Züge mittelalterlichen Ständedenkens. Diese Kulturdefizite, die in modernen Industrieunternehmen undenkbar wären, tragen erheblich dazu bei, dass viele unserer sehr engagierten Pflegenden, Ärztinnen und Ärzte frustriert dem System den Rücken zuwenden.

Patientenwohl muss wieder mehr im Mittelpunkt stehen. 
Foto: ©iStock.com/AndreyPopov
Patientenwohl muss wieder mehr im Mittelpunkt stehen.
Foto: ©iStock.com/AndreyPopov

Sie fordern auch eine Reform der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems, insbesondere beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem höchsten Entscheidungsgremium, in das Krankenkassen und Ärzteverbände jeweils fünf Vertreter:innen entsenden – dazu kommen Patientenvertreter:innen ohne Stimmrecht.

Reinhart: Betroffene und auch Verfassungsrechtler haben auf Basis der bisherigen Leistungsbilanz und Reformunfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens zunehmend Zweifel daran, dass der Staat seine Verpflichtung zur Gewährleistung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger – gemäß Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2) – so weitgehend wie bisher dem G-BA überlassen kann.

Der G-BA wird auch als „kleiner Gesetzgeber“ bezeichnet, weil seine Entscheidungen nicht nur hohe Relevanz für die Qualität des Gesundheitswesens haben, sondern diese auch wesentlich die Verteilung des jährlichen 400-Milliarden-Etats prägen. In keinem anderen Land der Welt kam man auf die Idee, die Budgethoheit für das Gesundheitswesen in die Hände eines Gremiums zu legen, in dem eben die Interessenverbände, die selbst finanziell und strukturell betroffen sind, eine zentrale Rolle bei der Mittelverteilung, Strukturentwicklung und Qualitätssicherung haben.

Durch eine Reform des Gesundheitssystems müssen Patientensicherheit, Gemeinwohlorientierung, Evidenz-basierte Medizin, Kosteneffektivität und eine externe unabhängige Qualitätssicherung möglich gemacht werden. Alle derzeit im G-BA vertretenen Interessenverbände und Akteure im Gesundheitswesen spielen eine sehr wichtige Rolle. Aber die Politik muss, nachdem alle bisherigen Reformversuche gescheitert sind, im Geiste Rudolf Virchows ihre durch das Grundgesetz vorgegebene Verpflichtung wahrnehmen. Die Initiatoren des Appells wurden von seiner Devise inspiriert: „Die Medizin hat die Verpflichtung, das Problem zu benennen. Die Politiker und die praktischen Anthropologen müssen die Mittel für die aktuelle Lösung des Problems finden“.

Nicht zuletzt die Corona-Pandemie bestätigt die Aktualität dieser Aussage. Sie hat den immensen Einfluss der Politik auf unser Gesundheitssystem und die Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungstragenden deutlich gemacht.

Den erstenTeil des Interviews finden Sie hier.

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