Nachvollziehbar ist es ja: Wenn ein Arzneimittel einen siebenstelligen Betrag kostet, dann wird es wenige Menschen geben, die das nicht irgendwie teuer finden. Ganz anders sieht es aus, wenn man die ganze Geschichte erzählt: Denn es geht um die Behandlung einer glücklicherweise extrem seltenen Erkrankung, die die längste Zeit als nicht behandelbar galt. Die schwerste Verlaufsform führte deshalb fast immer zum Tode – in der Regel in den ersten zwei Lebensjahren. Letzten Endes ersticken die betroffenen Kinder, weil die durch einen Gendefekt ausgelöste Muskellähmung schließlich auch vor der Lunge nicht Halt macht.
Doch in den vergangenen Jahren hat sich in der Behandlung der sogenannten „Spinalen Muskelatrophie“ dank verschiedener Arzneimittelinnovationen viel geändert – die Chancen der Betroffenen haben sich dramatisch verbessert. Siebenstellig ist der Preis für eine dieser neuen Therapien: ein Gentherapeutikum. Erst wenige Gentherapien sind bislang zugelassen – für Menschen mit noch nicht oder nur unzureichend behandelbaren Erkrankungen sind sie ein Hoffnungsschimmer. Ob es gelingt, weitere solcher Gentherapien zu entwickeln, wird darüber entschieden, ob es gelingt, schwersten Erkrankungen ihren Schrecken zu nehmen. Sie sind die Innovationen unter den Innovationen.
Arzneimittel: Ein „fairer“ Preis für Innovationen?
Doch was ist ein „fairer“ Preis für eine solche Innovation? Han Steutel, Chef beim Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), schreibt dazu im Arzneimittelkompass 2021: „Arzneimittelpreise können nicht nach Kriterien der Fairness und Gerechtigkeit beurteilt werden. Sie sollten nicht auf Basis von Entwicklungs-, Produktions- und Vertriebskosten bemessen werden. Vielmehr sollten Preise den Wert von Arzneimitteln widerspiegeln, um gesellschaftlich optimale Innovationsanreize setzen zu können.“ Sie sind „Anreize für innovatives Handeln“. Das Prinzip des Value-based Pricing lässt grüßen: Der Preis soll ein Signal sein für den Nutzen und Zusatznutzen von therapeutischen Interventionen.
„Innovationsanreize“ ist das Schlüsselwort. Die Preise signalisieren Investor:innen und Forschenden, dass solche Innovationen gewünscht sind – und entsprechend honoriert werden. Sie sind der Antrieb dafür, dass privatwirtschaftlich agierende Unternehmen das Risiko eingehen, sich komplexen wissenschaftlichen Fragestellungen zu widmen. Preise für Arzneimittelinnovationen sind im Grunde der Motor, der den Innovationszyklus in Gang hält. In dieser Gleichung ist Fairness schon deshalb kein Maßstab, weil sie sich nicht messen lässt, subjektiv ist und mehr über den Absender verrät, als das vielleicht intendiert ist. Denn aus Sicht von Krankenkassen, die Arzneimittel finanzieren müssen, ist vermutlich vor allem ein niedriger Preis gemeint, wenn von einem „fairen“ Preis gesprochen wird.
Schnell erklärt: Das Innovationsmodell der Pharma-Unternehmen
Oft hört man, das Geschäftsmodell der forschenden Pharmaindustrie sei schwer zu erklären. Das ist es im Grunde gar nicht. Es hat aber ein paar Besonderheiten, denn die Entwicklung von Arzneimitteln ist lang, risikoreich und teuer.
- Der Faktor Zeit: Die durchschnittliche Zeit von der ersten Idee über die Synthese bis zur Zulassung kann gut und gerne zwölf bis dreizehn Jahre verschlingen.
- Der Faktor Risiko: Von 100 Wirkstoffen, die in die klinische Forschung gelangen, erreichen nach jüngsten Daten nur rund sieben eine arzneimittelrechtliche Zulassung. Von diesen ist es wiederum nur jedes Dritte, das seine Kosten für Forschung und Entwicklung einspielt. In der Öffentlichkeit werden aber nur die erfolgreichen Produkte diskutiert. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung über das tatsächlich vorhandene wirtschaftliche Risiko.
- Der Faktor Kosten: Die Kosten für die Entwicklung eines patentgeschützten Arzneimittels inklusive der Kosten aller Fehlschläge sowie der Zeit- bzw. Opportunitätskosten betragen im Durchschnitt circa 2,6 Mrd. US-Dollar. Die Kosten für Forschung und Entwicklung steigen seit vielen Jahren stetig an.
Forschende Pharma- und Biotechnologieunternehmen entwickeln Arzneimittel, damit sie a) Krankheiten besser behandeln oder – Stichwort Impfstoffe – besser verhindern können, um damit b) Geld zu verdienen. Denn wenn sie kein Geld verdienen, können sie weder die Wissenschaftler:innen bezahlen noch die Investitionen tätigen, die dafür nötig sind. Und sie bekommen auf Dauer auch kein Geld von Risikokapitalgebern. Sprich: Sie sind ganz normale Unternehmen – nur eben mit besonders sensiblen Produkten. Man könnte das Geschäftsmodell auf die Formel bringen (Pharma Fakten berichtete):
Spitzenforscher:innen & unternehmerischer Mut & wirtschaftlicher Erfolg
=
neue Therapien & bessere Lebensqualität.
Das Innovationsmodell der pharmazeutischen Industrie, so Han Steutel, ist „ein Kreislaufmodell. Die Umsätze von heute finanzieren den Fortschritt von morgen, der dann nach Zulassung den Fortschritt von übermorgen finanziert.“ Wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Erfolg gehören zusammen; nur wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen können es sich leisten, sich auf dieses Geschäftsmodell einzulassen. Sind sie es nicht, wird der medizinische Fortschritt ausgebremst. Deshalb gibt es ein ausgeprägtes gesamtgesellschaftliches Interesse, dass Pharma-Unternehmen erfolgreich sind – das hat die Pandemie gerade besonders deutlich gezeigt. Denn eine Pandemiebekämpfung ohne Diagnose-Tests, Impfstoffe und Arzneimittel ist im Grunde keine (Pharma Fakten berichtete).
Patente: Auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen
Doch Preise, die sich nicht an subjektiven Kategorien von „Fairness“ und „Gerechtigkeit“, sondern an messbaren Fakten wie dem Wert und Nutzen von Arzneimitteln orientieren, machen allein noch keinen innovativen Sommer. Genauso wichtig sind regulatorisch fixierte Rahmenbedingungen, die innovatives Handeln gezielt fördern und absichern. Der Schutz des geistigen Eigentums ist dafür unabdingbare Voraussetzung. Han Steutel dazu: „Auf der Basis des aktuellen Stands der wissenschaftlichen Erkenntnis investieren pharmazeutische Unternehmen in die Entwicklung neuer Arzneimittel. Um dies tun zu können, brauchen privatwirtschaftliche Unternehmen einen Schutz ihres geistigen Eigentums durch Patente, Unterlagenschutz oder Marktexklusivitätsrechte. Denn ohne diese Schutzrechte könnten gewinnorientierte Unternehmen nicht in die Arzneimittelforschung investieren.“
Patente sind die Grundlage, dass Innovationen entstehen können. Trotzdem gilt ihre Aufhebung in der öffentlichen Diskussion als ein vermeintliches Allheilmittel, um die Versorgung zu verbessern bzw. gerechter zu gestalten – wie etwa im Zusammenhang mit den Coronavirus-Impfstoffen. Der US-Mäzen Bill Gates hat dazu eine klare Meinung: Die Forderung nach der Freigabe der Patente kanzelte er im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit als „Quatsch“ ab; das sei das Dümmste, was er je gehört habe. Und ergänzte: „Aber wenn man den Erfindergeist in der Pharmabranche abwürgen will, dann ist das Aussetzen von Patenten brillant. Man sollte immer damit drohen, dass die Firmen keinen Patentschutz haben werden.“ Effektiver, so Gates´ Botschaft, könnte man Fortschritt nicht abwürgen.