Antimikrobielle Resistenzen gegen Arzneimittel sind eine stille Pandemie  sagt der Biotechnologe John McGinley von Pfizer Deutschland. Aber es gibt durchaus auch gute Nachrichten. Ein Interview. Foto: ©iStock.com/microgen
Antimikrobielle Resistenzen gegen Arzneimittel sind eine stille Pandemie sagt der Biotechnologe John McGinley von Pfizer Deutschland. Aber es gibt durchaus auch gute Nachrichten. Ein Interview. Foto: ©iStock.com/microgen

Antimikrobielle Resistenzen: Die stille Pandemie

Antimikrobielle Resistenzen gegen Arzneimittel (AMR) sind ein weltweit verbreitetes Phänomen. Jedes Jahr leiden allein in Deutschland über 50.000 Menschen an den Folgen, dass gängige Arzneimittel wirkungslos werden. Experten rechnen damit, dass sich die Zahl in den kommenden Jahren deutlich erhöhen wird. Es ist eine stille Pandemie, sagt John McGinley, Mitglied der Geschäftsführung von Pfizer Deutschland, im Interview mit Pharma Fakten. Aber es gibt durchaus auch gute Nachrichten.

Herr McGinley, das Wort Pandemie kann keiner mehr hören. Geht es um antimikrobielle Resistenzen, benutzen Sie es ganz bewusst. Warum?

John McGinley: Antimikrobielle Resistenzen, kurz: AMR, stehen für eine der nächsten großen Bedrohungen globalen Ausmaßes. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, dass bis 2050 rund zehn Millionen Menschen an Infektionen durch multiresistente Keime sterben könnten. Diesen Krankheitserregern ist es egal, was die Medizin gegen sie auffährt: Antibiotika gegen Bakterien, Virostatika gegen Viren oder Antimykotika gegen Pilze werden wirkungslos oder nahezu wirkungslos. Nur, um das einzuordnen: Zehn Millionen Menschen entspricht der Einwohnerzahl einer Megacity wie Bangkok. Das alles wissen wir schon länger. Aber wir verdrängen das Problem – deswegen nenne ich es eine stille Pandemie.

Wie ist die Situation in Deutschland?

John McGinley, Pfizer Deutschland. 
Foto: ©Pfizer Deutschland
John McGinley, Pfizer Deutschland.
Foto: ©Pfizer Deutschland

McGinley: Schon jetzt trifft es bei uns jedes Jahr über 50.000 Menschen, die an einer Infektion mit Resistenzen gegenüber mehreren Antibiotika oder Antiinfektiva leiden – mehr als 2.000 sterben an den Folgen. Wir gehen davon aus, dass sich die Resistenzwerte in den kommenden Jahren noch erhöhen werden. Jedem muss klar sein: Eine Resistenz gegen verfügbare Wirkstoffe kann jeden von uns treffen. Jederzeit. Wenn wir nicht gegensteuern, stehen nichts weniger als die Errungenschaften der modernen Medizin auf der Kippe. Erste Gegenmaßnahmen sind eingeleitet. Aber zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir feststellen: Sie reichen nicht aus. Obwohl wir die Risiken kennen.

Woran liegt es?

McGinley: Zu gesundheitlichen Risiken haben wir Menschen eine mitunter merkwürdige Beziehung. Um das zu sehen, muss man sich nur die Impflücken in Deutschland anschauen. Damit sind nicht nur die rund 15 Millionen Menschen gemeint, die sich trotz der bekannten möglichen Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion nicht impfen lassen. Wir rennen in Deutschland in fast allen Indikationen, in denen uns Impfstoffe zur Verfügung stehen, nationalen und internationalen Empfehlungen hinterher: Grippe? Pneumokokken? HPV? Wenn es um gesundheitliche Risiken geht, pflegen wir gern das „Wird-mich-schon-nicht-treffen“-Prinzip. Das ist menschlich nachvollziehbar. Aber clever ist es nicht.

Und die aktuelle Pandemie hat die Situation nicht gerade verbessert…

McGinley: Nein, leider nicht. Während gerade die größte Impfkampagne in der Geschichte läuft, müssen wir feststellen, dass in Deutschland die Zahl der durchgeführten Standardimpfungen eingebrochen ist – und zwar um minus 27 Prozent allein im ersten Halbjahr 2021 (Pharma Fakten berichtete). Von der Influenza abgesehen, zeigen alle Zahlen nach unten: Das bedeutet weniger Impfschutz gegen Masern und Mumps, gegen Hepatitis oder Pneumokokken. Dabei ist ein guter Impfschutz Voraussetzung dafür, dass ich zum Beispiel Antibiotika gar nicht erst brauche; etwa, wenn ich eine Pneumokokken-Infektion vermeide. Der Kampf gegen AMR wird ohne hohe Impfraten deutlich herausfordernder werden. Wenn wir hier erfolgreich sein wollen, müssen wir Infektionskrankheiten zurückdrängen. Prävention ist ein ganz wichtiges Instrument, um die AMR-Krise zu managen.

Warum ist es so schwer, neue Antibiotika zu entwickeln?

Prävention als Instrument gegen die AMR-Krise. Foto: ©iStock.com/Choreograph
Prävention als Instrument gegen die AMR-Krise. Foto: ©iStock.com/Choreograph

McGinley: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen: Das ist nicht so einfach, wie es klingt. Bei neuen Antibiotika-Klassen erreicht nur jeder 30. Wirkstoff-Kandidat in der präklinischen Entwicklung den Patienten – alle anderen scheitern aus den verschiedensten Gründen. Wir haben sehr hohe wissenschaftliche Hürden, was sich auch in den Entwicklungskosten zeigt, die seit Jahren steigen: Ein Antibiotikum zu entwickeln, kann über eine Milliarde Euro kosten – wir müssen die gescheiterten Projekte ja in die Kalkulation mit einbeziehen. Und es kann gut und gerne bis zu fünfzehn Jahre dauern. Ein weiteres Problem ist: Es gibt eigentlich keinen funktionierenden Markt.

Warum? Der Bedarf ist doch da.

McGinley: Der Bedarf ist da, das stimmt. Aber momentan ist es so, dass wir Antibiotika entwickeln, die aber, wenn sie die Zulassung erhalten, möglichst wenig eingesetzt werden sollen. Das sind die so genannten Reserveantibiotika. Neue Arzneimittel sollen im Grunde so wenig wie möglich eingesetzt – in Reserve gehalten werden – damit wir neue Resistenzbildungen möglichst lange hinauszögern können. Das aber ist kein Geschäftsmodell für Unternehmen, die hunderte von Millionen Euro in die Entwicklung solcher Wirkstoffe stecken müssen, die sie dann aber zunächst nicht verkaufen sollen. Wir brauchen dringend – und das haben WHO, Europäische Kommission und andere auch erkannt – neue Modelle. Wir brauchen ein Umfeld, in dem solche Innovationen gedeihen können. Wir brauchen ein nachhaltiges Innovationsökosystem.

Was muss jetzt passieren?

McGinley: Die gute Nachricht ist ja: Wir haben fast alle Instrumente an der Hand, die AMR-Krise in den Griff zu bekommen. Aber wir müssen dringend ein paar Weichen stellen:  Dazu gehört, dass wir Infektionskrankheiten in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen und AMR gezielter monitoren und managen müssen. Ich spreche von so genannten Antimicrobial-Stewardship-Programmen, die dafür sorgen, dass in allen Einrichtungen unseres Gesundheitswesens einheitliche Standards für den rationalen und verantwortungsvollen Einsatz von solchen Arzneimitteln geschaffen und umgesetzt werden. Wir brauchen ein gezieltes Qualitätsmanagement, eine bessere Aus- und Fortbildung von Ärztinnen und Ärzten, sowie der Pflegekräfte. Und wir müssen schlicht mehr Geld in die Hand nehmen, denn noch immer wird AMR eher stiefmütterlich behandelt.

Es heißt, dass noch immer jede zweite Antibiotikabehandlung ohne Diagnose des Erregers begonnen wird. Stimmt das?

Antimikrobielle Resistenzen: Eine stille Pandemie. Foto: ©iStock.com/microgen
Antimikrobielle Resistenzen: Eine stille Pandemie. Foto: ©iStock.com/microgen

McGinley: Ja, das ist leider so. Beim Zugang zu diagnostischen Schnelltests haben wir in Deutschland noch viel Luft nach oben. Dabei sind solche Tests die Voraussetzung dafür, dass gezielt und vor allem nicht falsch behandelt wird. Der Zugang zu diagnostischen Schnelltests als Anhaltspunkt für die antimikrobielle Behandlung könnte jedes Jahr weitere 450 Leben in Deutschland retten – das hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer Untersuchung herausgefunden. Mehr Testungen sind die Garantie dafür, dass einer erfolgreichen Behandlung der Faktor Zufall genommen wird. Das ist eine ganz wichtige Stellschraube in der AMR-Krise.

Das klingt alles nach einer sehr großen Herausforderung…

McGinley: Das ist es auch – ohne Zweifel. Was mich positiv stimmt: Die COVID-19-Pandemie hat uns gezeigt, was machbar ist, wenn wir gezielt und abgestimmt vorgehen. Wir unterstützen zum Beispiel den AMR-Action Fund, der das Ziel ausgegeben hat, bis 2030 zwei bis vier neue Antibiotika bis zur Zulassung zu bringen. Unter anderem investieren dort forschende Pharmaunternehmen wie wir eine Milliarde US-Dollar, damit kleine Biotechunternehmen den finanziellen Atem haben, neue Antibiotika zu entwickeln. Es ist jetzt Zeit zu handeln.

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