Über eine Million Menschen haben sich innerhalb der letzten sieben Tage in Deutschland mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert (RKI, Stand. 09.02.2022). Wir sind noch mittendrin: in der Epidemie. Prof. Hassan Vally und Prof. Catherine Bennett von der australischen Deakin University sind Fachleute auf dem Gebiet der Epidemiologie. Sie erklären: „Wenn eine Krankheit epidemisch ist, weist das darauf hin, dass es ein Ungleichgewicht gibt […]“. Die Treiber der Krankheitsverbreitung sind „stärker als die Faktoren, die die Ausbreitung einschränken.“ Das Ergebnis: Der Erreger rauscht durch die Gesellschaft wie ein „tobendes Buschfeuer. Es ist explosiv und schwierig unter Kontrolle zu bringen“.
Endemie bedeutet nicht „Ende“
Doch mit der Zeit verändern sich die zugrundeliegenden Kräfte: Die Immunität in der Bevölkerung – durch Impfung sowie durch Infektion – steigt; irgendwann werden alle einen mehr oder weniger großen Schutz aufgebaut haben, so die Hoffnung. Die Übertragungsmöglichkeit des Virus sinkt; weniger Menschen erkranken. Im Fachblatt „Nature“ erläutert Oxford-Professor Aris Katzourakis den Begriff „Endemie“ als eine Art Gleichgewicht. Der Anteil der Menschen, die noch krank werden können, balanciert die Zahl derjenigen aus, die eine SARS-CoV-2-infizierte Person theoretisch anstecken könnte, wenn es noch keine Immunität sowie Schutzmaßnahmen gäbe. Wissenschaftsjournalist Joachim Müller-Jung fasst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zusammen: „Endemie heißt: Der Erreger bleibt. Es gibt, grob gesagt, eine Balance zwischen Immunität und Inzidenz. Er zirkuliert und flammt hin und wieder auf, wo die Immunität schwindet oder fehlt.“
Endemie bedeutet also keinesfalls ein „Ende“. Das Robert Koch-Institut (RKI) definiert es ganz im Gegenteil als „in einer Gegend heimische Krankheit, von der ein größerer Teil der Bevölkerung regelmäßig erfasst wird.“ Vally und Bennet schreiben: „Anstatt einer explosiven, unvorhersehbaren Krankheitsausbreitung kommen wir an einen Punkt, an dem die Gegenwart eines zirkulierenden Erregers eine geringere Bedrohung für die Bevölkerung darstellt als noch zu Beginn der Epidemie“. Und weiter: „Übertragungen werden berechenbarer, aber nicht unbedingt konstant – es wird womöglich weiterhin Wellen geben, gerade saisonal bedingt.“ Aber diese sind kontrollierbar.
Endemisch heißt harmlos?
Das ist nicht mit „harmlos“ gleichzusetzen, betont Katzourakis. „Es gibt ein weitverbreitetes […] Missverständnis, wonach Viren mit der Zeit ungefährlicher werden.“ Das muss nicht der Fall sein. Auch Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach sagte in einem FAZ-Interview: „Das sind keine Gesetzmäßigkeiten. Corona kann sich in Richtung ‚Omikron minus’ oder ‚Delta plus’ entwickeln. Ich will ja nun wirklich kein Schwarzmaler sein, aber die Idee, dass Corona sich von selbst zum harmlosen Erkältungsvirus verwandelt, ist Wunschdenken.“ Auch Malaria gilt in etwa hundert Ländern als „endemisch“ – und tötet weltweit rund 600.000 Menschen pro Jahr.
Endemie könne vieles bedeuten, so Lauterbach gegenüber der FAZ. „Im besten Fall wird das Virus harmloser und löst nur noch kleine und lokal begrenzte Ausbrüche aus.“ Allerdings könne man „auch in eine Endemie geraten, in der eine sehr gefährliche Variante dominant ist, gegen die wir die Schwachen weiter mit großem Aufwand schützen müssen. Wie sich das Virus entwickelt, kann niemand vorhersagen. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
Auf dem Weg in die Endemie: Die Menschen sind gefragt
Das zeigt: Es geht um mehr, als einfach hinzunehmen, dass die Menschen künftig mit dem Virus leben müssen. „Dasselbe Virus kann endemische, epidemische oder pandemische Infektionen verursachen – es hängt von einem Zusammenspiel bestehend aus dem Verhalten der Bevölkerung, der demografischen Struktur, Empfänglichkeit und Immunität und der Frage nach neuen Virusvarianten ab“, meint Katzourakis.
„Gesundheitspolitische Handlungen und individuelles Verhalten werden entscheiden, welche Form […] endemisches COVID-19 annehmen wird“. Es frustriere ihn, „wenn sich politische Entscheidungsträger auf das Wort ‚endemisch’ berufen – als Ausrede, um wenig oder nichts zu tun“.
Der Wissenschaftler fordert, „faulen Optimismus“ beiseitezulegen: Strategien im Kampf gegen COVID-19 sollten auf belastbaren Zahlen zu Todesfällen, Invalidität und Krankheit beruhen – auch vor dem Hintergrund, dass zirkulierende Viren immer die Gefahr bergen, dass neue Varianten entstehen. Außerdem gelte es weltweit die „beeindruckenden Waffen“ einzusetzen, die bereits verfügbar sind. Darunter: „wirksame Impfstoffe, antivirale Medikamente, diagnostische Tests“ – aber auch das Tragen von Masken oder Luftfiltersysteme. Und es müsse weiter an Vakzinen geforscht werden, die vor einer breiteren Bandbreite an Virusvarianten schützen.
Die Frage der Immunität
Wie lange es noch dauert, bis Endemie im Land ist? Wie schwer der Weg dorthin wird? Oder wie die Endemie dann aussehen wird? Das kann niemand genau sagen. Schließlich ist unter anderem noch gänzlich unklar, wie gut und wie langanhaltend die Immunität der Bevölkerung nach der aktuellen Corona-Welle ist – auch in Bezug auf unterschiedliche Virus-Varianten. Wissenschaftsjournalist Müller-Jung erklärt in der FAZ: „Schwindet der Immunschutz langsam, kommt das Virus vielleicht alle zwei Jahre zurück, schützen frühere Viruskontakte und Impfungen sehr gut, kann das Virus womöglich sogar jahrelang in Schach gehalten werden“. Wahrscheinlich seien angesichts der Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit von SARS-CoV-2 aber eher kürzere Infektionszyklen.
Experten wie der Immunologe Prof. Dr. Carsten Watzl gehen übrigens davon aus, dass die Omikron-Welle die bestehende Impf- bzw. Immunitätslücke in der Bevölkerung nicht schließen wird. Unter anderem deuten Daten darauf hin, dass Ungeimpfte nach einer Omikron-Infektion „deutlich weniger neutralisierende Antikörper“ haben als Geimpfte und „kaum Schutz gegen andere Varianten.“ Eine weitere Impfung werde notwendig, meint Watzl. Schon deshalb gilt: Zurücklehnen und abwarten, bis das Virus von selbst endemisch oder gar harmlos wird, ist nicht.