„Europäische Gesundheitssysteme gaben viel Geld – wirklich viel – für COVID-19-Diagnose-Tests aus, um neue Fälle zu erkennen und so die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen“, so EFPIA-Experte Thomas Allvin. Allerdings: „Die Kosten der Nicht-Eindämmung der Krankheit – inklusive überfüllte Krankenhäuser mit schwerkranken Patient:innen – wären sehr viel größer gewesen“.
Und auch die ab Ende 2020 in Europa zugelassenen Corona-Impfstoffe haben entscheidend dazu beigetragen, dass noch größeres Leid verhindert werden konnte. Derartige Beispiele zeigen: „Clever gemanagte Ausgaben helfen, an anderer Stelle oder auf längere Sicht hin Kosten zu sparen“ – für Gesellschaft und Gesundheitssysteme lohnt sich das. Bei der Diskussion um die „affordability“, also die Bezahlbarkeit bzw. Erschwinglichkeit von Medikamenten oder Impfstoffen muss diese Perspektive miteinbezogen werden. Die Frage ist zudem, wie groß das verfügbare Budget ist und wer dafür bezahlt. Allvin kritisiert, dass manche europäische Länder noch immer sehr hohe Zuzahlungen der Patient:innen für verschreibungspflichte Medikamente verlangen. „Niemand sollte davon abgehalten werden zur Apotheke zu gehen und die benötigten Medikamente zu holen, weil er es sich von dem eigenen Gehalt, der Rente oder Sozialhilfe nicht leisten kann“.
Gesundheitssysteme in Europa: Stabile Arzneimittelausgaben-Anteile
Die Frage, um die es also im Kern gehen muss, ist: „Sind Medikamente bezahlbar für Gesundheitssysteme?“ In der „Pharmaceutical Strategy for Europe“ heißt es, dass das „eine zunehmende Herausforderung für die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten“ ist. Die „finanzielle Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen“ sei in Gefahr – und somit letztlich der Zugang der Patient:innen zu Arzneimitteln.
„Aber ist das wahr? Führen die Ausgaben für Medikamente zum Bankrott der europäischen Gesundheitssysteme“, fragt Allvin. Das Beratungsunternehmen IQVIA hat sich dazu Daten aus 15 europäischen Ländern angeschaut: „Es mag einige überraschen: Die Ausgaben für Pharmazeutika als Anteil an den gesamten Gesundheitsausgaben waren in allen untersuchten Ländern über die vergangenen 20 Jahre stabil“, fasst Allvin zusammen. Laut IQVIA lag der Anteil 2018 im Durchschnitt bei rund 15 Prozent – je nach Land lag er zwischen 8 und 24 Prozent.
„Dieses Ergebnis ist ziemlich erstaunlich, wenn man genauer darüber nachdenkt: In den vergangenen 20 Jahren gab es einen konstanten Fluss an neuen Medikamenten und Durchbruchs-Therapien, die es aus den Forschungspipelines der Industrie zu den Patient:innen schafften.“ Darunter sind neuartige Onkologika, die es früher nicht gab und die nun die Behandlungsergebnisse für Menschen verbessern, deren Krebs-Erkrankungen einst als „schwer behandelbar“ galten. Darunter sind Arzneimittel, die aus der Leberentzündung Hepatitis C eine heilbare Erkrankung gemacht haben und so auch den Bedarf an Lebertransplantationen reduzierten. Es sind zudem immer mehr „Orphan Drugs“ für Leiden entwickelt worden, die selten sind und für die es zuvor oft keine einzige medikamentöse Behandlungsmöglichkeit gab.
Gesundheitssysteme: Alternde Bevölkerung, chronische Krankheit
Allvin gibt zu: Die Gesundheitssysteme haben auf lange Sicht sehr wohl ein Nachhaltigkeits-Problem – aber das liegt nicht an den Arzneimittel-Ausgaben. „Tatsächlich zeigt der IQVIA-Bericht, dass in vielen Ländern die gesamten Gesundheitsausgaben schneller angestiegen sind als die Arzneimittelausgaben.“ Treiber sind alternde Bevölkerungen, chronische Krankheiten und Multimorbidität.
„Bei vielen chronischen Leiden wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen machen die Medikamentenkosten nur einen sehr kleinen Teil aus“, so der EFPIA-Experte. Außerdem können Medikamente dazu führen, dass die Betroffenen seltener ins Krankenhaus müssen und weniger Komplikationen entwickeln – letztlich spart das Geld. In einer Untersuchung rechnet EFPIA vor, dass die antiretrovirale Behandlung von 105.000 HIV-Infizierten in der EU zwischen 2007 und 2017 ein Plus von insgesamt 775.000 gesunden Lebensjahren mit sich bringt. Die Betroffenen können mehr arbeiten gehen – die Folge ist ein Produktivitätsgewinn von fast 22 Milliarden Euro.
Das zeigt: Arzneimittel können angesichts einer alternden Gesellschaft ein Teil der Lösung sein. Natürlich: An vielen Stellen braucht es neue Herangehensweisen, will man ihr Potenzial voll ausschöpfen. Das können etwa neuartige, erfolgsabhängige Bezahlmodelle für Gentherapien sein, die anfangs hohe Kosten mit sich bringen, auf lange Sicht aber Einsparungen generieren, wenn sie eine Langzeitbehandlung bei chronischer Krankheit ersetzen. Laut Allvin braucht es auch auf die einzelnen Nationen angepasste Preis-Strategien, damit alle Menschen in Europa gleichermaßen vom medizinischen Fortschritt profitieren: „Nicht alle europäischen Länder haben dieselben Kapazitäten […]. Wenn wir ein gleichberechtigteres System schaffen wollen, sollte Rumänien weniger für innovative Medikamente bezahlen als Schweden.“
Er betont: „Die Industrie ist bereit, mit politischen Entscheidungsträger:innen und allen relevanten Akteur:innen zusammenzuarbeiten, um aktuelle Hürden im System zu überwinden und sicherzustellen, dass neue Therapien zu all jenen Menschen gelangen, die sie benötigen.“