Die bestmögliche Behandlung: Darauf sollten alle Krebs-Patient:innen Anspruch haben. Die Voraussetzung? Eine Diagnose – richtig und präzise. Am zweiten Tag des diesjährigen Kongresses der Onkologen-Initiative Vision Zero e.V. machte Prof. Dr. Stefan Pfister vom Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (KiTZ) deutlich, wie schwierig das sein kann: „Eine der großen Herausforderungen ist die Verschiedenartigkeit von Tumoren.“ Zum Beispiel gehe die Neuroonkologie inzwischen davon aus, „dass es ungefähr 200 molekular verschiedene Hirntumorarten gibt.“ Die aktuellen diagnostischen Standardverfahren verfügen aber „nicht über die entsprechende Auflösung“, damit Mediziner:innen klar genug differenzieren können. Zumal manche Erkrankungen so selten sind, dass die Ärzt:innen sie nur wenige Male in ihrem Berufsleben zu Gesicht bekommen.
„Deswegen brauchen wir […] bessere oder komplementäre Methoden zu dem Mikroskop, das schon seit hunderten von Jahren eingesetzt wird.“ Zwar gebe es nicht für alle Hirntumorarten schon spezifische Therapien; aber „nur wenn wir sie erkennen, können wir auch Therapien dahingehend entwickeln.“
Mit Künstlicher Intelligenz Krebs diagnostizieren
Deutsche Forschende – darunter Prof. Dr. Pfister – haben daher mit Patientendaten eine „Referenzbibliothek“ aufgebaut, in der inzwischen 180 verschiedene Hirntumorarten abgebildet sind. Außerdem haben sie eine Software auf Basis Künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben, welche die Tumorprobe eines Kranken einer in der Bibliothek hinterlegten Tumorklasse zuordnen kann. „Wenn der Algorithmus nicht weiß, was es ist, gibt er das auch zu“, betonte der Experte. Eine prospektive Analyse zeigte: In etwa 12 Prozent aller Fälle weicht die Diagnose, die die KI stellt, von der der Fachärzt:innen ab. Meistens führen die Informationen der KI dann dazu, dass die Mediziner:innen ihre Diagnose tatsächlich abändern. Nur bei unter 1 Prozent ist dem nicht so.
Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse riefen die Forschenden eine Website ins Leben: Interessierte weltweit können dort Tumorproben bzw. die entsprechenden Datensätze hochladen und diese somit an die KI geben. Inzwischen lägen „weit über 100.000 Datensätze“ vor. „Das heißt, wir kommen in einen Bereich, wo wir bei Hirntumoren, die in weniger als 1:10.000 Fällen vorkommen, mit sehr großer Präzision vorhersagen können, welcher Hirntumor das ist.“ Das Fazit von Prof. Dr. Pfister: Das KI-basierte Verfahren ist „schon in der Diagnostik angekommen […]. Wir sehen es als eine extrem robuste Methode“. Die Nachfrage nehme weltweit zu. Und „wir sehen die klinische Bedeutung“: Schließlich ist eine mögliche Abänderung der anfänglichen ärztlichen Diagnose „relevant für die Therapieentscheidung“.
Kraft des Immunsystems nutzen: Innovationen in der Krebstherapie
In Sachen Präzisionsdiagnostik tut sich also viel. Ähnlich gilt das für den Bereich der Therapie. „Man hat in den letzten Jahren viel darüber gelernt, wie das Immunsystem funktioniert“, sagte Krebsexperte Prof. Dr. Lars Bullinger, Charité Universitätsmedizin Berlin. Inzwischen gibt es verschiedene therapeutische Ansätze, die das Immunsystem stimulieren und seine Kraft nutzen können, um gegen Krebs effektiv vorzugehen. Darunter sind die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren: Kurz zusammengefasst lösen sie bestimmte Bremsen, die das Immunsystem davon abhalten, die Tumorzellen anzugreifen. Prof. Dr. Bullinger berichtete von einer 54-jährigen Patientin mit einem Hodgkin-Lymphom, die bereits 9 Vortherapien erhalten und wieder einen Rückfall erlitten hatte: Mit einer Checkpoint-Therapie „war der Tumor nach 6 Monaten komplett weg“.
Ein anderer Ansatz ist die CAR-T-Zelltherapie, in deren Rahmen Immunzellen der Patient:innen gentechnisch verändert und so quasi fitgemacht werden. Das „hat dazu geführt, dass viele Tumorerkrankungen, für die wir keine Lösungen mehr hatten, heilbar geworden sind“. Und die Forschung läuft weiter, damit in Zukunft noch mehr Menschen von „CAR-T“ profitieren können.
Großes Potenzial versprechen zudem therapeutische Impfungen gegen Krebs. „Das Prinzip bei einer solchen Impfung ist, dass man gegen Erkennungsmerkmale, gegen Tumorantigene auf Krebs Immunantworten im Patienten selbst hervorruft“, erläuterte Wissenschaftlerin Prof. Dr. Özlem Türeci von der Firma BioNTech. Schon in den 1990er-Jahren habe ihr Team entschieden in diesem Zusammenhang die mRNA-Technologie zu nutzen. Heute kommt sie in Corona-Vakzinen zum Einsatz. In den vergangenen Dekaden wurde diese Technologie immer weiterentwickelt, um sie beim Menschen einsetzen zu können. BioNTech arbeitet in vorklinischen und klinischen Studien an mehreren Kandidaten zur Behandlung unterschiedlicher Krebsarten.
Krebs: Innovationsboom in der Onkologie
Prof. Dr. Christof von Kalle, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Vision Zero e.V., sprach nach der Kongresssitzung von einem „Gänsehaut“-Gefühl. Kein Wunder, hat sie die Zuschauer:innen vor Ort und im Livestream doch zu Zeugen des Innovationsbooms in der Onkologie werden lassen. Wissenschaftler:innen ist inzwischen im Übrigen klar, dass es nicht das eine Heilmittel geben wird. Vielmehr braucht es unterschiedliche Therapie-Strategien. Denn Krebserkrankungen sind von Patient:in zu Patient:in sehr unterschiedlich. Und Tumorzellen finden immer wieder neue Wege, das Immunsystem auszutricksen – es gilt, sie von mehreren Seiten zu attackieren.
Weitere Informationen zur Initiative „Vision Zero e.V.“: www.vision-zero-oncology.de