Die These
„Deutschland hat das beste Gesundheitssystem der Welt.“ Der Mann, der das sagt, ist nicht irgendwer. Prof. Karl Max Einhäupl war bis 2019 elf Jahre lang Vorstandsvorsitzender der Charité Universitätsmedizin. Heute ist der 75-Jährige Leopoldina-Mitglied und Kongresspräsident beim Deutschen Hauptstadtkongress, wo er seine These zuletzt vortrug. Kurzum: Einhäupl zählt zu den renommiertesten Medizinern des Landes, sein Wort hat Gewicht. Wie aber kommt er auf die Idee, das deutsche Gesundheitssystem sei besser als in allen anderen Ländern? Und woran bemisst er das?
Seine Antwort: „Jeder Patient hat unabhängig vom sozialen Status freien Zugang zu allen Angeboten der Gesundheitsversorgung.“ Zudem befinde sich Deutschland bei allen wichtigen Parametern immer unter den Top 6 – egal, ob es um die Bezahlbarkeit der Gesundheitsgüter geht, um die Zahl der Krankenhausbetten pro Kopf der Bevölkerung oder um eine gerechte Verteilung der Gesundheitsangebote.
Dr. Gerald Gaß, Vorsitzender der deutschen Krankenhausgesellschaft, sah das genauso. Er verwies auf Daten aus 1.472 Krankenhäusern, die „ein hohes, stetig sich verbesserndes Gesundheitsniveau“ zeigen. Alles bestens also?
Die Antithese
„Wir kriegen in Deutschland für unser Geld zu wenig Gesundheit.“ Das sagt Reinhard Busse, streitbarer Gesundheitsökonom und Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin. Er findet: „Der Zugang zur Gesundheitsversorgung alleine reicht nicht. Die Gleichung muss vielmehr lauten: Zugang x Qualität = Bevölkerungsgesundheit.“ Der Zugang sei in Deutschland „recht gut“, an der Qualität allerdings hapere es an vielen Ecken.
Welche Ecken das sind, erläuterte Michael Müller, der in Paris als Analyst für Gesundheitspolitik für die OECD tätig ist, die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Er stellte klar: Deutschland liegt etwa bei der Lebenserwartung und „vermeidbarer Sterblichkeit“ nur im Mittelfeld, beim Umgang mit Risikofaktoren wie Tabak, Alkohol, Übergewicht sogar ziemlich weit hinten. Auch die Häufigkeit von chronischen Erkrankungen wie Diabetes sei überdurchschnittlich und es fehle an einer effektiven Krebsvorsorge. Müller pflichtete Busse im Wesentlichen bei: „Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist sehr gut, aber die Qualität oft nur durchschnittlich.“
Wie es besser gehen könnte, zeigen nach Busses Aussage die Länder in Nordeuropa. In Dänemark etwa sei die Kosteneffektivität deutlich besser, die Sterblichkeit sei dort in den letzten Jahren bei geringeren Ausgaben gesunken. Busse berichtete von einem Telefonat, das er vor längerer Zeit im Zuge der Corona-Pandemie mit RKI-Chef Lothar Wieler geführt habe. Wieler habe wissen wollen, wie viele Beatmungsgeräte es in Deutschland gebe. Busses Antwort: „Keine Ahnung.“ Wir seien eben nicht in Dänemark: „Dort wissen sie bei jedem Gerät, wo es steht und auch, ob gerade ein Patient dranhängt.“ Das liege an einer deutlich besseren Digitalisierung unserer Nachbarn – das ginge auch bei uns, aber man müsse es eben wollen. Kritik übte Busse – nicht zum ersten Mal in seiner Laufbahn – an unnötigen und viel zu häufigen Behandlungen im Krankenhaus:
„Wir hatten vor der Pandemie 50 Prozent mehr Krankenhaus-Einweisungen als in vergleichbaren Ländern“, so Busse, „wir behandeln im Schnitt jeden Krebspatienten viermal stationär, in anderen Ländern nur zweimal.“ Aber anders als bei uns gebe es zum Beispiel in Finnland spezielle Gesundheitszentren, in denen entschieden werden könne, ob jemand tatsächlich ins Krankenhaus muss oder ob es ambulante Behandlungsmöglichkeiten gebe.
Der Schlagabtausch
„Herr Busse will die Zahl der Krankenhäuser reduzieren – das finde ich nicht gut“. Mit diesen Worten wehrte sich Gerald Gaß gegen Busses Aussagen und ging sogleich zum Gegenangriff über: „Ich würde mir mehr Objektivität von Ihnen wünschen. Sie suchen immer nach Indikatoren, die Deutschland schlecht aussehen lassen.“ Das wiederum wollte Reinhard Busse nicht auf sich sitzen lassen und holte seinerseits zum Gegenschlag aus: „Sie haben eine sehr selektive Wahrnehmung, Herr Gaß.“
Doch bevor der Schlagabtausch eskalierte, versuchte Kongresspräsident Einhäupl zu vermitteln: „Wir brauchen die Busses dieser Welt, weil sie den Finger in die Wunde legen.“ In der Tat gebe es im deutschen Gesundheitssystem durchaus Potenzial für Verbesserungen. So etwa bei der Effizienz. Einhäupl bemängelte auch, dass „alle Diskussionen monetär getrieben sind.“ Und weiter: „Wir müssen weg vom rein monetären Denken und sollten uns lieber auf das konzentrieren, was für die Patienten richtig ist.“
Auch Gerald Gaß sieht noch Verbesserungspotenzial: „Wir sollten die klinisch ambulante Versorgung verbessern, die Digitalisierung vorantreiben und mehr auf Kooperation als auf Wettbewerb setzen.“ Gaß betonte, dass 15 Prozent der Krankenhausbehandlungen tatsächlich ambulant erfolgen könnten. „Da hinken wir in Deutschland in der Tat hinterher. Aber bislang fehlt es an den Voraussetzungen, damit wir mehr Fälle ambulant versorgen können.“
Einig war sich die Runde auch darin, dass viel mehr im Hinblick auf Prävention getan werden müsste. „Nur drei Prozent der Gesundheitsausgaben fließen hierzulande in die Prävention“, betonte Michael Müller. Und was die Digitalisierung angehe, belege Deutschland tatsächlich einen der hinteren Plätze: „Ganz vorne liegt Korea – dort gibt es nationale Datensätze, Krebs- und Diabetesregister. In Deutschland dagegen weiß der Hausarzt häufig nichts von einer vorangegangenen Behandlung beim Facharzt. Man muss Daten erheben, nutzen, verknüpfen.“
Das Fazit
Moderator Anno Fricke vom Springer Medizin Verlag gab sich alle Mühe, sein Fazit so zu formulieren, dass alle Teilnehmenden an der Diskussionsrunde gut damit leben können. Heraus kam dabei der bemerkenswerte Satz: „Es muss sich etwas verändern, damit es bei uns so gut bleiben kann wie es jetzt ist.“