Können Digitale Gesundheitsanwendungen ärztliche Behandlungen sinnvoll ergänzen? Expert:innen in Berlin kamen jetzt zu einer eindeutigen Antwort. Foto: ©iStock.com/MJ_Prototype
Können Digitale Gesundheitsanwendungen ärztliche Behandlungen sinnvoll ergänzen? Expert:innen in Berlin kamen jetzt zu einer eindeutigen Antwort. Foto: ©iStock.com/MJ_Prototype

Digitale Gesundheitsanwendungen: Was DiGAs wirklich können

Was bringen Digitale Gesundheitsanwendungen, so genannte DiGAs? Und welche gibt es überhaupt? Einen Überblick dazu lieferte jetzt eine Expertenrunde in Berlin, allen voran die Haus- und Lehrärztin Irmgard Landgraf.

Der Schmerz kam immer am Wochenende. Von Montag bis Freitag führte Elvira M. (Name geändert) ein ganz normales Leben, sie stand früh auf, ging zur Arbeit, aß pünktlich zu Abend. Sie hatte keine Beschwerden. Am Wochenende jedoch, wenn sie eigentlich entspannen wollte, fing es regelmäßig an, in ihrem Kopf zu pochen und zu hämmern. Die Migräneanfälle kamen so zuverlässig und heftig, dass an Erholung nicht zu denken war.

DiGAs: Großes Potenzial. 
Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn
DiGAs: Großes Potenzial.
Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn

Das änderte sich erst, als Elviras Hausärztin ihr eine DiGA verordnet hatte, eine Digitale Gesundheitsanwendung. Zu dieser gehörte unter anderem eine Art Schmerztagebuch, in dem die Patientin ihren Tagesablauf festhielt und auch die Zeitpunkte, an denen die Migräne-Anfälle kamen. Dabei zeigte sich: Elvira M. hatte am Wochenende einen völlig anderen Tagesrhythmus als unter der Woche. Sie besprach das Tagebuch mit ihrer Hausärztin, die ihr empfahl, ihren gewohnten Rhythmus auch am Samstag und Sonntag beizubehalten – und nicht etwa deutlich länger zu schlafen. „Heute ist die Patientin glücklich, sie hat keine Migräne mehr“ – so erzählte es die behandelnde Hausärztin Dr. Irmgard Landgraf kürzlich beim Hauptstadtkongress in Berlin.

Schmerzen, Schwindel, Schlafstörungen: Vielfältige Einsatzmöglichkeiten

Landgraf, die zugleich Lehrärztin der Charité ist, gehört zu den Mediziner:innen, die DiGAs in ihren Praxisalltag integriert haben und nicht mehr darauf verzichten wollen. Seit Oktober 2020 kann die digitale Unterstützung von Ärzt:innen verordnet werden, die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen. Insgesamt sind derzeit 31 DiGAs zugelassen. 12 davon erhielten eine dauerhafte Zulassung, 19 weitere eine vorläufige – bei ihnen muss sich erst noch zeigen, ob sie tatsächlich einen langfristigen und dauerhaften Nutzen mit sich bringen. Einsatzgebiete sind depressive und andere psychische Erkrankungen, aber auch Schlafstörungen, Schmerzen, Übergewicht, Nikotinabhängigkeit, Burn-Out, Schwindel oder Reizdarm. „Bei meinen Patienten kommen digitale Gesundheitsanwendungen gut an, sie fühlen sich unterstützt“, berichtete Landgraf. Zugleich betonte sie jedoch: „Der Nutzen muss erkennbar und die Anwendung einfach sein.“

Anders gesagt: Es reicht nicht, die digitale Anwendung nur zu verschreiben und die Patient:innen dann damit alleine zu lassen. Landgraf: „Ich beginne immer mit einem Beratungsgespräch und erkundige mich auch später regelmäßig, ob die Patienten die DiGA wirklich nutzen“. Dabei darf sie für eine Beratung zur Erstverordnung derzeit gerade mal 2,03 Euro abrechnen, bei der Verlaufskontrolle sind es 7,21 Euro. Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb DiGAs nach Landgrafs Aussagen bislang eher selten verordnet werden. „Bisher gab es seit der Einführung rund 40.000 Verschreibungen, zumeist von Hausärzten“, so Landgraf – bei immerhin steigender Tendenz. Kritikpunkte seien – neben der komplizierten Abrechnung und der bescheidenen Honorierung – die hohen Kosten, die grundsätzlich für eine DiGA anfallen. Im Schnitt müssen die Krankenkassen für jede verordnete App zwischen 200 und 250 Euro bezahlen, unabhängig davon, ob die Patient:innen die Anwendung tatsächlich nutzen.

Deutschland als Vorreiter

Seit 2020 in Deutschland: Verordnung von DiGAs zu Lasten der Krankenkassen. 
Foto: ©iStock.com/Grassetto
Seit 2020 in Deutschland: Verordnung von DiGAs zu Lasten der Krankenkassen.
Foto: ©iStock.com/Grassetto

Deutschland war 2020 das erste Land in Europa, in dem digitale Gesundheitsanwendungen zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden konnten. Das Zulassungsverfahren dafür ist denkbar einfach: Die Hersteller einer DiGA verhandeln mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM, das dann über eine Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis entscheidet. Damit das geschieht, müssen Evidenz und Sicherheit der jeweiligen App belegt sein. Da aber in Sachen Evidenz nicht immer längerfristige Erfahrungswerte vorliegen, kann eine Zulassung auch probeweise erfolgen. Eine Auswertung der Barmer Krankenkasse zeigte: 72 Prozent der dort versicherten Menschen, die eine DiGA verwenden, sind weiblich – und die meisten davon sind zwischen 40 und 65 Jahre alt.

Diese Zahlen nannte Dr. Ernst Seiffert vom Medizinischen Dienst Berlin-Brandenburg. Nach seinen Angaben nutzten im Frühjahr 2022 rund 15.000 Versicherte eine oder mehrere DiGAs. Am häufigsten genutzt wurde eine digitale Anwendung, die Behandlungen gegen Rückenschmerz unterstützt, gefolgt von einer Anwendung für Tinnitus-Patient:innen. 16 der momentan zugelassenen DiGAs sind psychiatrischer Natur, etwa zur Behandlung von depressiven Störungen, Angststörungen oder Abhängigkeits-Erkrankungen. Wichtig dabei: „Es handelt sich grundsätzlich um die begleitende Behandlung einer Face-to-Face-Therapie“, so Seiffert. Manchmal könne damit auch die Wartezeit bis zum Beginn einer Psychotherapie überbrückt werden – und es handle sich um ein niedrigschwelliges Angebot „für Menschen, die sonst nicht zum Psychotherapeuten gehen würden“.

Kompromiss bei den Preisen

Hin und wieder kommt es vor, dass BfArM und Hersteller sich nicht auf einen Preis für eine DiGA einigen können. In diesem Fall tritt eine Schiedsstelle auf den Plan, deren unparteiischer Vorsitzender der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem ist. Er sagt: „Die Hersteller wollen mindestens 700 Euro haben, die Angebote des GKV-Spitzenverbandes liegen nie über 50 Euro.“ Eine Ausnahme seien DiGAs, die auf seltene Erkrankungen abzielen: Sie seien vom Höchstbetrag befreit. Die Erstattung kann hier also auch deutlich höher liegen als die Summe, die Wasem in anderen Fällen mit seinen Schiedssprüchen festlegt.

Alles in allem wurde auf der Veranstaltung deutlich: DiGAs können medizinische Behandlungen sinnvoll ergänzen oder Wartezeiten überbrücken – vorausgesetzt, die Ärzte sprechen mit ihren Patient:innen über Erfolge und Misserfolge bei der Anwendung. Die Initiative dazu geht übrigens bislang fast immer von den verordnenden Ärzt:innen aus: „Ich werde in meiner Praxis nie auf eine DiGA angesprochen, sondern ich schlage sie immer von meiner Seite aus vor“, berichtet Irmgard Landgraf, „in der Regel sind mir meine Patienten dafür hinterher sehr dankbar.“

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