Linagliptin, Vildagliptin, Canagliflozin, Lixisenatid – vier Antidiabetika, vier Medikamente, die in Deutschland nicht mehr auf dem Markt sind. Die Hersteller hatten die Notbremse gezogen. Der verhandelte Erstattungsbetrag drohte weit unter den Erwartungen zu liegen, da der G-BA den Wirkstoffen keinen Zusatznutzen bescheinigt hatte. Keine andere Indikation ist so massiv von Marktrücknahmen betroffen wie Diabetes.
Formale Kriterien stechen medizinische
Kein Zufall, wie Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des G-BA, jetzt eingeräumt hat. Laut Presseagentur Gesundheit sprach er auf dem Expertenforum Diabetes von „gravierenden Unwuchten zwischen den einzelnen Indikationsgebieten“ bei der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel. Während zum Beispiel Onkologika häufig gut bewertet würden, fehle es bei chronischen Krankheiten wie Diabetes zum Zeitpunkt der frühen Nutzenbewertung an Daten zu positiven Langzeiteffekten. Das IQWiG schrieb zur Gruppe der Gliptine: „Viele der bisher durchgeführten Studien sind nicht geeignet, die Frage des Zusatznutzens zu beantworten.“ Die formalen Kriterien führen dazu, dass die medizinischen nicht zum Zug kommen.
Ein Paradoxon mit Folgen – insbesondere in der Anfangszeit der frühen Nutzenbewertung, als die Auswirkungen eines negativen Urteils nicht bekannt waren. „Linagliptin war eines der ersten Medikamente in der frühen Nutzenbewertung”, sagt Dr. Ralph Warsinsky, Sprecher von Boehringer Ingelheim, die das Antidiabetikum gemeinsam mit Lilly auf den Markt bringen wollten. Man habe keine Erfahrungswerte gehabt, wie sich eine negative Nutzenbewertung auf die Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband auswirken würde. „Wir hatten die Sorge, dass ein sehr, sehr niedriger Preis rauskommt, der nicht einmal die Herstellungskosten unseres neuen Präparats deckt.“
DDG: Neue Vergleichstherapie festlegen
Sehr, sehr niedrig bedeutet im Cent-Bereich, in dem die Vergleichstherapie angesiedelt ist. „Die wenigen Cent Tagestherapiekosten von Sulfonylharnstoffen erlauben es keinem innovativen Medikament, auf dem deutschen Markt zu bleiben“, unterstreicht Prof. Dr. Dirk Müller-Wieland, Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Als Alternative nennt er die Festlegung der so genannten DDP-4-Hemmer als Vergleichstherapie. Zu denen gehören zwar auch die oben erwähnten Linagliptin und Vildagliptin – mit Sitagliptin und Saxagliptin hatten es zwei Wirkstoffe geschafft, die Hürde der frühen Nutzenbewertung zu nehmen und sich als Therapie zu etablieren.
Hecken setzt auf Nachfrage von Pharma Fakten eher auf eine bereits bestehende Möglichkeit: „Sofern aufgrund fehlender Evidenz bei neuen Wirkstoffen Aussagen zu Langzeiteffekten nicht getroffen werden können, kann der G-BA seinen Beschluss mit einer niedrigen Aussagesicherheit bestimmen und den Beschluss unter Auflage weiterer Daten befristen.“ (Das vollständige Interview mit Prof. Hecken gibt es hier.) Eine Option, die nicht greifen kann, wenn das Medikament vorher vom Markt genommen wird.
Hecken: Thema für den Pharma-Dialog
Werden Innovationen zurückgezogen, ziehen am Ende immer die Patienten den Kürzeren. Das sehen auch Hersteller und Krankenkassen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Bedeutung der frühen Nutzenbewertung geringer ist, als viele befürchtet hatten. Auch mit dem Stempel „keine Anhaltspunkte für Zusatznutzen“ lässt sich in den Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband ein guter Preis erzielen. Genau darauf hoffen Boehringer Ingelheim und Lilly jetzt. Die beiden Unternehmen haben mit Empagliflozin ein weiteres Antidiabetikum auf den Markt gebracht, dem ebenfalls – aus formalen Gründen – kein Zusatznutzen bescheinigt wurde. Dieses Mal haben sie nicht den Rückzug angetreten, sondern befinden sich in den Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband. Mit Dulaglutid hat Lilly zudem ein weiteres eigenes Antidiabetikum derzeit in der frühen Nutzenbewertung.
Ob der Prozess der frühen Nutzenbewertung dennoch angepasst werden muss, lässt Hecken offen. Wenn in der Vergleichstherapie zehn bis 15 Wirkstoffe in freier Mehrfachkombination eingesetzt würden, könne es in der Tat sehr schwierig sein, Evidenz gegenüber jeder möglichen Kombination zu generieren. Für eine Überarbeitung des Prozesses könne es „wegen der Unterschiedlichkeit der Fallgestaltungen jedoch keine einfachen Patentrezepte geben. Hierüber wird unter anderem auch im Pharma-Dialog zu diskutieren sein“, sagt Hecken.