Wie bewerten Sie die jüngsten Medikamentenzulassungen in der Multiple-Sklerose-Therapie? Handelt es sich hier um einen „echten“ Mehrwert für die betroffenen Patienten?
Prof. Dr. Heinz Wiendl: Das muss man differenziert sehen. Insgesamt wurden in den letzten drei Jahren Medikamente zugelassen, die einen bedeutenden Mehrwert für die Behandlung von MS-Patienten darstellen. Einerseits gibt es Medikamente, bei denen der Zugewinn eher gering ist. Andererseits kann es für den Patienten einen bedeutenden Unterschied machen, ob er eine Tablette nimmt, oder sich ein Medikament spritzen muss.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was müsste ein Medikament zur MS-Behandlung Ihrer Meinung nach leisten?
Prof. Wiendl: Idealerweise müssten die Medikamente die fehlgeleitete Immunreaktion gegen das zentrale Nervensystem komplett stoppen, die falsch regulierte Toleranz des eigenen zentralen Nervensystems wieder herstellen und in der Anwendung sehr sicher sein. Mit dieser Mixtur wäre im Prinzip eine komplette Kontrolle der Multiplen Sklerose möglich. Wichtig ist, dass die restlichen Funktionen des Immunsystems – und damit die Sicherheit des Medikaments – weiterhin optimal sind.
Wie weit davon entfernt sind die aktuell verfügbaren Medikamente?
Prof. Wiendl: Wir haben bereits mindestens zwei sehr gut wirksame Medikamente, die die Entzündung bei den allermeisten Patienten bereits weitgehend kontrollieren. Das Problem ist die Sicherheit und damit die Möglichkeit, die Präparate breit anzuwenden. Diese Medikamente greifen tief ins Immunsystem ein und haben deshalb bestimmte kritische Nebenwirkungen. Ein anderer Anspruch an die Substanzen ist jedoch, dass sie in der Lage sind, Schäden im zentralen Nervensystem zu regenerieren und zu reparieren. Dies kann bisher noch keines der Medikamente. Patienten, bei denen die MS weit fortgeschritten ist, werden von ihnen meist nicht profitieren.
Beim KKNMS betreiben Sie Ursachenforschung. Denken Sie, die Forscher werden irgendwann an den Punkt kommen, die MS vollständig zu entschlüsseln?
Prof. Wiendl: Das KKNMS betreibt nicht nur Ursachenforschung, sondern versucht die Lücke zwischen Grundlagenforschung und Patientenversorgung zu schließen. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgen wir mit der Stiftung Neuromedizin, mit der wir zusätzlich die Rolle der Entzündungen entschlüsseln wollen. Wir fragen uns, in wie weit Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung für den konkreten Patienten relevant sind. Wir versuchen gerade besser zu verstehen, wie genetische Merkmale und Umwelteinflüsse mit messbaren Zeichen der Krankheit zusammenhängen und wie sich daraus eine Prognose geben und Therapieansprechen messen lässt. Die Entschlüsselung der MS ist ein komplexes Unterfangen. Wir denken allerdings, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren individuell vorhersagen können, wie das Erbgut und die Erkrankungsmanifestation zusammenhängen und wie Therapien individueller gesteuert werden können.
Aus heutiger Sicht: Werden wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem MS heilbar sein wird?
Prof. Wiendl: Ich habe eine eigene Definition von Heilung. Bei Autoimmunerkrankungen besteht ja eine genetische Empfänglichkeit für die Erkrankung, die die Medizin nicht beeinflussen kann. Was man allerdings bei den meisten Patienten erreichen können wird, ist eine weitgehende Kontrolle dieser Autoimmunerkrankung, sodass der Patient ohne wesentliche Beeinträchtigungen mit der Diagnose leben kann. Das wird uns nicht bei allen Patienten gelingen, aber doch bei den allermeisten.
Zur Person:
- Heinz Wiendl ist Professor für Neurologie und Direktor der Klinik für Allgemeine Neurologie am Universitätsklinikum Münster. Dort leitet er eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe zur Erforschung der Entstehung und Therapie der Multiplen Sklerose – ein Thema, mit dem er sich seit mehr als 15 Jahren intensiv befasst. Prof. Wiendl ist Co-Sprecher des DFG-geförderten Sonderforschungsbereichs “Multiple Sklerose”, Gründungssprecher und Vizevorstand des Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose sowie Vorsitzender der in Münster ansässigen Stiftung Neuromedizin. Für seine wissenschaftliche Arbeit wurde er mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Er hat mehr als 300 Artikel in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht.
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