AMNOG verfehlt wesentliche Ziele

Das AMNOG hat sein Ziel verfehlt. Das ist die Kernaussage eines Gutachtens, das Prof. Dr. Dieter Cassel (Universität Duisburg Essen) und Prof. Dr. Volker Ulrich (Universität Bayreuth) im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) erstellt haben. Immerhin: Es bleibt Hoffnung. Im Kern sei das AMNOG nutzbar, es seien jedoch Änderungen notwendig.

103 Bewertungsverfahren hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in den Jahren 2011 bis 2014 abgeschlossen. 47 davon haben die Bewertung „kein Zusatznutzen“ bekommen. Wurde ein Zusatznutzen anerkannt, dann in der Regel in stark eingeschränkten Subpopulationen. Weshalb das besorgniserregend ist, macht eine Umrechnung in dem Gutachten von Cassel und Ulrich klar: Mit den bewerteten Innovationen wären über alle Indikationen hinweg rund 31,4 Millionen Patienten therapierbar. Folgt man den Bewertungen des G-BA, hätten 24,6 Millionen von diesen Innovationen keinen Zusatznutzen. Gerade mal 300.000 Patienten (0,9 Prozent) dürften mit einem beträchtlichen Zusatznutzen rechnen. Mit einem erheblichen kein einziger (0,0 Prozent).

Für diese Zahlen gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder ist die Pharmaindustrie nicht in der Lage, wirkliche Innovationen zu entwickeln – und das, obwohl sie in Relation zum Umsatz kontinuierlich mehr für Forschung und Entwicklung ausgibt als fast alle anderen Branchen. Oder die frühe Nutzenbewertung und damit der Kern des AMNOG funktioniert nicht.

Gutachten vs. Kassen – wer hat Recht?

Das Gutachten von Cassel und Ulrich bezieht in dieser Frage klar Stellung: Schuld ist das AMNOG, das alleine das Ziel verfolge, Kosten zu senken – ungeachtet des medizinischen Fortschritts. Die Krankenkassen hingegen sprechen häufig von der Innovationsschwäche der Industrie und von Scheininnovationen. Die Kassen sind über den GKV-Spitzenverband (GKV-SV), der einen Sitz im G-BA hat, allerdings selbst an der Entscheidung über den Zusatznutzen beteiligt – für die Gutachter einer der Gründe für die vielen negativen Nutzenbewertungen. Wer hat Recht?

Auch der G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken hat kürzlich mit einer Bemerkung offenbart, dass es offenbar Reformbedarf gebe: Es gebe Unwuchten in der frühen Nutzenbewertung. Neue Therapien für chronische Erkrankungen würden benachteiligt, da für sie noch nicht die notwendigen Langzeitdaten vorliegen. Auch bei Indikationen wie Epilepsie, die eine sehr patientenindividuelle Therapie notwendig machen, haben sich Ärzte und Patientenverbände vehement gegen die frühe Nutzenbewertung ausgesprochen.

Innovationen scheitern an formalen Gründen

Am überzeugendsten allerdings ist eine weitere Zahl aus dem Gutachten: Nur bei gut acht Prozent der Arzneimittel, die mit dem Stempel „kein Zusatznutzen“ aus der Bewertung gegangen sind, war dieses Urteil durch Studien belegt. Bei allen anderen wurden laut IQWiG Daten nicht anerkannt, lagen geforderte Vergleiche nicht vor, griffen andere formale Gründe.

Warum ist das aus Sicht der Gutachter dramatisch? Das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung hat Auswirkungen auf den Erstattungspreis eines Arzneimittels. Bekommt es keinen Zusatznutzen bescheinigt, wird es in eine Festbetragsgruppe eingeordnet. Mit Zusatznutzen muss es sich in den Preisverhandlungen mit dem GKV-SV mit niedrigpreisigen Generika messen. Das, stellen Cassel und Ulrich fest, führe zu Marktaustritten von Arzneimitteln oder dazu, dass neue Medikamente in Deutschland gar nicht erst auf den Markt kämen. Innovationen, die auf dem Markt bleiben, liegen laut Gutachten mit ihrem Preis im europäischen Durchschnitt oder drunter. „Das gefährdet die Wirtschaftlichkeit von Innovationen“, sagte Ulrich bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie.

Ausschluss des GKV-SV aus dem G-BA gefordert

Damit das AMNOG seinen eigentlichen Zweck erfüllen könne – eine wirtschaftliche Versorgung der Patienten mit innovativen Arzneimitteln sicherstellen –, seien einige Änderungen notwendig. In einem Punkt fordern die Gutachter die Trennung von Nutzenbewertung und Preisverhandlungen, um Interessenskonflikte zu vermeiden. Kurz gesagt: Raus mit dem GKV-SV aus dem G-BA.

Als weiterer Punkt sollten in den Verhandlungen über den Erstattungsbetrag die Kosten für Forschung und Entwicklung einer Innovation als Komponente einfließen. Cassel erläutert den Grund: „Früher gab es einen Generationenvertrag in der Gesundheitswirtschaft: Die aus dem Patent gelaufenen Präparate hatten Preise, die eine Refinanzierung der Kosten für Forschung und Entwicklung möglich machten.“ Mit den Generika, deren Preise an der Schmerzgrenze lägen, sei dies nicht mehr möglich. Eine wirtschaftliche Arzneimittelversorgung müsse aber auch die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittel selbst gewährleisten, nicht nur des Gesundheitssystems. Sonst bestehe die Gefahr, dass die Zahl der Innovationen rapide sinke, folgert das Gutachten.

Unterversorgung mit Innovationen

Auch die Unterversorgung der Patienten mit innovativen Arzneimitteln prangerten Cassel und Ulrich an. Selbst Medikamente mit verhandeltem Erstattungspreis und beträchtlichem Zusatznutzen würden nur einem geringen Teil der Patienten verschrieben. Der Vorwurf: Die Kassen übten Druck auf die Ärzte aus, günstigere Arzneien zu verschreiben. Wenn dies wirklich Praxis ist, ließe es sich freilich nicht mit einer Reform des AMNOG ändern. Hier wäre die Politik gefragt, die Unabhängigkeit der Ärzte zu stärken.

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: