Die Forderung nach AMNOG-Reformen war nicht nur beim Hauptstadtkongress in Berlin ein viel diskutiertes Thema. Während für Politiker Änderungen am Gesetz durchaus vorstellbar sind, beschäftigten sich zwei Studien vorrangig mit einer Analyse der aktuellen Situation. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) hatte dafür Prof. Dieter Cassel von der Universität Duisburg-Essen und Prof. Volker Ulrich von der Universität Bayreuth beauftragt, das AMNOG auf den ökonomischen Prüfstand zu stellen.
Der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) präsentierte wenige Tage später anhand einer Studie einen Vergleich der Arzneimittelversorgung in der GKV und in 15 anderen europäischen Gesundheitssystemen. Autor ist der Gesundheitsökonom Prof. Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin. Letztlich nahm daraufhin der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) Stellung. Eine Diskussion mit vielen Widersprüchen loderte auf.
AMNOG und die Folgen für Patienten
Cassel und Ulrich kommen in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass „das AMNOG mit dem Prinzip ,Money for Value’ einen gesundheitsökonomisch begrüßenswerten Ansatz“ verfolge. Doch offenbar funktioniert nicht alles so, wie ursprünglich beabsichtigt. Das Ziel, sowohl Einsparungen für die Krankenkassen zu erzielen als auch industriepolitische Belange zu berücksichtigen, sei weitgehend in Vergessenheit geraten, betonten die beiden Autoren. Schon jetzt komme es zu Beeinträchtigungen bei der Arzneimittelversorgung in Deutschland. Fast alle neuen Therapien aus den Jahren 2011 bis 2014 wurden nur einem geringen Teil der Patienten verschrieben. Die Gesundheitsökonomen hatten die Verfügbarkeit aller von der European Medicines Agency (EMA) zugelassenen Arzneimittel mit neuem Wirkstoff vier Jahre vor Einführung des AMNOG (2007–2010) und vier Jahre nach dem AMNOG (2011–2014) verglichen.
Das BPI-Gutachten kritisiert vor allem die frühe Nutzenbewertung beim AMNOG. Eine negative Bewertung hat in vielen Fällen zu Marktrücknahmen geführt. Ein weiterer Grund sind gescheiterte Preisverhandlungen mit dem GKV-SV. Cassel und Ulrich erkennen durch das AMNOG einen „Kellertreppeneffekt“ bei Arzneimittelpreisen, der sich nicht nur nachteilig auf die Industrie auswirkt, sondern auch auf die Patienten, denen langfristig weniger Innovationen zur Verfügung stehen. Dabei betrachten Ulrich und Cassel ausschließlich AMNOG Präparate und vergleichen aktuelle Listenpreise von 2015.
GKV-SV hält mit europäischer Vergleichsstudie dagegen
Das Gutachten des GKV-SV zieht ein gänzlich anderes Fazit und stellt dem AMNOG ein gutes Zeugnis aus. Laut Studienautor Busse sind Medikamente in Deutschland schneller auf dem Markt verfügbar als in anderen europäischen Ländern. Er sieht eine Erstattungsfähigkeit in Deutschland bei praktisch allen Präparaten und für alle zugelassenen Indikationen. Im Vergleich dazu gebe es in anderen Ländern häufig Einschränkungen bei Indikationen oder Patientengruppen.
Busse stützt seine Einschätzungen überwiegend auf Daten aus dem Zeitraum zwischen 2006 und 2010. In der Diskussion um die Verfügbarkeit von Innovationen seit Einführung des AMNOG argumentiert Busse mit Daten vor der AMNOG-Einführung. Als Beleg für seine These präsentierte er aber auch Verfügbarkeitsdaten aus dem Jahr 2013. Diese bezogen sich auf insgesamt neun Arzneimittel – sowohl auf Bestandspräparate als auch auf AMNOG-Präparate.
Unterschiedliche Betrachtung bei den Arzneimittelkosten
Der Gesundheitsökonom nimmt selbst keine Preisanalyse vor, sondern bezieht sich auf Untersuchungen Dritter – vor allem auf den Arzneiverordnungsreport (AVR) des AOK-Instituts WIdo. Seit 1985 wird dieser jährlich veröffentlicht. Bei diesem wurden AMNOG und Bestandsmarktprodukte miteinander verglichen. Busse liefert anders als Cassel und Ulrich einen internationalen Vergleich von Arzneimittelausgaben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das deutsche Preisniveau für Medikamente im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld liegt.
Der vfa kommt in einer Stellungnahme zum GKV-Gutachten von Busse zu einem ganz anderen Schluss. Seit Einführung des AMNOG sieht er das Erstattungsniveau in Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt. 73 Prozent der deutschen Preise liegen laut vfa unter dem Mittel, 38 Prozent sogar unter dem niedrigsten Vergleichspreis. Basis für diese Aussage sind 63 Erstattungsbeträge, die nach dem AMNOG-Verfahren festgelegt wurden.
Zukunft des AMNOG
An dem AMNOG wollen grundsätzlich alle an der Diskussion Beteiligten festhalten. Zumindest in diesem Punkt herrscht Übereinstimmung. Änderungen an dem lernenden System wollen sie ebenfalls. Jedoch in unterschiedlicher Ausrichtung. Die Kontrahenten haben ihre Argumente mit der Hilfe von Studien vorgelegt. Der Ball liegt letztlich bei politischen Entscheidungsträgern, um aus dem umstrittenen Gesetz eine Erfolgsgeschichte für die Versorgung der Patienten zu machen.