Es gehört zum Job eines Redakteurs von Pharma Fakten, pharmakritische Bücher zu lesen. Im Grunde ist das in Ordnung; Leider ist es aber auch ermüdend. Jüngstes Beispiel: „Big Pharma: Wie profitgierige Unternehmen unsere Gesundheit aufs Spiel setzen“ des Dänen Mikkel Borch-Jacobsen. Es lebt von dem Ansatz, dass sich Verschwörungstheorien wohl immer noch am besten verkaufen.
Schon der Prolog heißt: Perfektes Verbrechen. Gleich zu Beginn darf ein Richter fragen: „Wer also sind diese Leute, die bewusst und im Geheimen entscheiden, die Öffentlichkeit allein aus Profitstreben zu gefährden, und die glauben, dass Krankheit und Tod der Verbraucher der Preis sind, der für ihr eigenes Wohlergehen zu bezahlen ist?“ Lässig aus der Schreiber-Hüfte geschossen, ist die Verschwörung schnell erzählt: Pharmaunternehmen Y verschweigt Nebenwirkung von Arzneimittel X, bis ein edler Whistleblower die Verbrecherbande endlich hochgehen lässt, „weil die Leichen sich auf zu offensichtliche Weise häufen“. Wer hat an diesem Buch mitgeschrieben: Monty Python?
Von Leichen, die sich häufen
Dabei ist es nicht so, dass grundsätzlich immer alles nicht stimmt, was Borch-Jacobsen und seine Co-Autoren schreiben. Denn leider gab und gibt es Skandale. Und die sind weder kleinzureden, noch totzuschweigen, denn es geht hier um die Gesundheit von Menschen. Aber ist es legitim, auf Grund von Einzelbeispielen eine gesamte Branche in Sippenhaft zu nehmen? Ist es gerechtfertigt jedes Unternehmen und damit jeden Mitarbeiter der pharmazeutischen Industrie pauschal zu kriminalisieren? Ergibt es irgendeinen Sinn, das pharmazeutische Geschäftsmodell grundsätzlich in den Zusammenhang dunkler Machenschaften zu bringen?
Am Anfang dieses Buchprojektes stand offensichtlich eine These. Sie lautet: Big Pharma ist eine Branche, die auf Kosten der Gesundheit aller manipuliert, betrügt, einschüchtert, gewinnt. Das Buch beginnt denn auch mit einem Beispiel aus den 60er Jahren (!). Dies ist – nur um das einzuordnen – ein halbes Jahrhundert her. Aber: Die heutige Pharmaindustrie und das sie regulierende Umfeld hat mit den damaligen Standards rein gar nichts mehr zu tun.
Über Gesundheit und Geschäft
In ideologische Debatten aus der Zeit des Kalten Krieges zurückgeworfen, fühlt man sich im Kapitel „Pharmakonzerne im Dienst der Aktionäre“. Daseinszweck der Industrie sei nicht die Gesundheitsvorsorge, sondern die Gewinnoptimierung, heißt es da. Aber hat jemand je ernsthaft behauptet, private, börsenorientierte Unternehmen hätten sich ausschließlich der Gesundheitsvorsorge verschrieben? Erfolgreiche Pharmaunternehmen müssen beides können: Gute Wissenschaft und gutes Management. Denn um Arzneimittel zu entwickeln braucht es Wissen, Erfahrung, gutes Management, hervorragende (und teure) Wissenschaftler, auch Glück. Aber wenn der Verkauf nicht funktioniert? Dann ist es bald Essig mit neuen Entwicklungen. Wer will das?
Als Beleg für das wahre Gesicht von Pharma zählt Borch-Jacobsen ein paar Lebensläufe von Pharma-Vorständen auf, „die zumeist über keinerlei medizinische oder pharmakologische Ausbildung verfügen“. Ach herrje – was glaubt dieser Mann? Diese Menschen sollen Unternehmen leiten. Sie stehen nicht selbst im Labor, um die nächste Generation Antidiabetika zu entwickeln. Man mag es kritisch sehen, dass Unternehmen der Gesundheitsbranche an der Börse notiert sind. Aber das ist immer noch der beste Platz, um das von der Industrie benötigte Risikokapital aufzubringen – zumindest so lange sich die öffentliche Hand bei der Entwicklung von Medikamenten vornehm zurückhält (was wahrscheinlich eine gute Nachricht ist).
Geldverdienen mit dem Leid anderer
Borch-Jacobsen schreibt: „Die Pharmaindustrie ist nicht zu verstehen, wenn man nicht erkennt, dass es sich um eine ungeheure Maschine handelt, mit der Geld gemacht wird, viel Geld, immer noch mehr Geld“. Er beweist damit, dass er die Industrie nicht verstanden hat. Denn nur wenn die Wissenschaft funktioniert, nur wenn die Pipelines neue Therapieoptionen liefern, klappt es auch mit dem Geldverdienen. Das ist eine Grundregel, die auch dadurch nicht ungültig wird, dass man in der Geschichte dieser Industrie Beispiele findet, wo Preis und Leistung auseinanderklaffen.
Aus dem Geldverdienen mit Krankheiten leitet Borch-Jacobsen einen permanenten Interessenkonflikt zwischen der Öffentlichkeit und der Industrie ab. Man wird das Gefühl nicht los: Das ist die These eines Menschen, der das Privileg hat, gesund zu sein. Ob das ein Hepatitis-C-Patient auch so sieht, wo nach Jahrzehnten der Forschung die Ausrottung der Krankheit zumindest vom pharmakologischen Standpunkt aus betrachtet nicht mehr unmöglich ist?
Hilfe der Industrie für Menschen in Entwicklungsländern
Schlichtweg Verleumdung ist die Aussage, die Pharmaindustrie lasse die Menschen in Entwicklungsländern alleine. Es ist schon befremdlich, wenn ein Autor, der mit Vorwürfen wie Vertuschung, Manipulation und Korruption um sich wirft, selbst Thesen aus den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts propagiert und fortschreibt. Welche „Verbrecher“ waren das noch, die sich dazu verpflichtet haben, für den WHO-Plan der Ausrottung bzw. Eindämmung von zehn tropischen Krankheiten 14 Milliarden Behandlungen im Wert von 19 Milliarden US-Dollar zu verschenken?
Höchstens unterhaltsamer, aber leider nicht besser wird das Buch im zweiten Teil, in dem die Co-Autoren zu Wort kommen dürfen: Dort erfährt man, dass das „Konzept Alzheimer“ „mehr mit den Strategien des von Big Pharma gesteuerten medizinisch-industriellen Komplexes zu tun hat als mit irgendeiner wissenschaftlichen Realität“. Oder dass es der „ultimative Traum der Pharmaindustrie“ sei „alle, denen es gut geht, in Kranke zu verwandeln.“ Und dass Massenmedien als Marketing-Hilfen der Industrie funktionieren, um eine Pandemie zu erfinden.
Eine vertane Chance
Dabei gäbe es so viel zu diskutieren: Über die Medikalisierung der Gesellschaft und deren Folgen zum Beispiel. Oder über die ethischen Fragen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn Gesundheit und Geschäft aufeinanderprallen. Oder über den Sinn und Unsinn von Fortschritt im Allgemeinen. Oder über die Grenzen der Bezahlbarkeit von teuren Biopharmazeutika. Borch-Jacobsen und sein Autorenteam beschränken sich darauf, die pharmazeutische Industrie pauschal zu verdammen. Das Buch ist eine vertane Chance.
Zum Buch:
Mikkel Borch-Jacobsen: Big Pharma. Wie profitgierige Unternehmen unsere Gesundheit aufs Spiel setzen. Piper-Verlag, München 2015