Wie schätzen Sie die aktuellen Behandlungsmöglichkeiten für Krebspatienten ein?
Prof. Dr. Christof von Kalle: Zuletzt sind große Fortschritte aufgrund der Entwicklungen in der Genetik und Immunonkologie gelungen. Es gibt bereits Medikamente, die zielgerichtet wirken. Weitere sind noch in der Entwicklung. Das Arsenal der Mediziner hat sich dadurch deutlich vergrößert. Das hat dazu geführt, dass die früher schwer zu bekämpfenden Geschwulste besser behandelt werden können. Die neuen Präparate haben insgesamt die Überlebensdauer verlängert und die Lebensqualität verbessert.
Die Kosten für die Behandlung von Krebs haben nicht zuletzt durch die Veröffentlichung des Buches „Die Krebs-Industrie“ von Karl Lauterbach eine Diskussion ausgelöst. Wie bewerten Sie diese Debatte?
Prof. Kalle: Die Arzneimittel haben zum Teil hohe Preise. Wenn wir anfangen diese Präparate in einer Kombinationstherapie einzusetzen, könnte das auf Dauer schwer umsetzbar sein. Doch momentan sind die Onkologika statistisch bei weitem nicht der teuerste Posten bei den Arzneimittelausgaben. Grundsätzlich ist unser Gesundheitssystem in der Lage die Kosten für diese Innovationen zu stemmen.
An welchen Stellschrauben sollte gedreht werden? Und wo nicht?
Prof. Kalle: Durch klinische Studien wird messbar, wie wirksam Medikamente tatsächlich sind. Die Preisverhandlungen sollten sich in diesem Rahmen bewegen. Präparate, die keinen oder nur einen geringen Fortschritt bringen, sollten dementsprechend bewertet werden, sehr gut wirksame Arzneimittel hohe Preise erzielen dürfen. Einer These Lauterbachs möchte ich jedoch entschieden widersprechen: Den neuen Arzneimitteln sollte auf keinen Fall der Marktzugang erschwert werden. Schon jetzt dauert es meistens zu lange, bis die Medikamente die Patienten erreichen. Eine weitere Hürde aufzustellen, wäre ein großer Fehler.
Meiner Meinung nach tut der Gesetzgeber leider zu viel dafür, dass insgesamt alles teurer wird und so die Konkurrenz schrumpft. Die Auflagen für die Durchführung klinischer Studien sind sehr hoch. Der Aufwand selbst für kleine Studien wird mitunter teuer. Dadurch existieren immer weniger Player, die diese durchführen. Manchmal habe ich den Eindruck, der Gesetzgeber macht es gerade den kleineren Herstellern schwer.
Kritiker monieren: Die großen Erfolge in der Onkologie finden fast nur noch in den USA statt. Wie ist die Forschung in Deutschland und Europa aus Ihrer Sicht aufgestellt?
Prof. Kalle: In den Vereinigten Staaten herrschen ganz andere Voraussetzungen als bei uns. Das Entwicklungsmodell von der akademischen Erfindung hin zum Biotech-Spin-Off ist dort sehr ausgeprägt: Es wächst, wird groß oder schließlich aufgekauft. In Europa findet man dagegen nur in begrenztem Maße Ausgründungen, für die sich Venture-Kapital findet. Noch ein Unterschied: Für Amerikaner gilt es als Erfolg Umsätze zu generieren – auch mit Arzneimitteln. Dagegen haben wir in Deutschland eine Negativ-Diskussion. Hier entstehen durch Medikamente und Behandlung nur Kosten. Anders als hierzulande ist es nicht anrüchig, sondern Gang und Gäbe zwischen dem akademischen Betrieb und der Industrie wie bei einer Drehtür zu wechseln. Die Flexibilität ist einfach größer und Firmen betreiben dort häufig ihren eigenen akademischen Bereich.
Insgesamt liegen wir in Deutschland etwas zurück: Das NCT ist gerade mal zehn Jahre alt, in den angelsächsischen Ländern und Skandinavien bemüht man sich schon sehr viel länger um translationale Forschung in staatlich nachhaltig geförderten klinischen Forschungsprogrammen und Comprehensive Cancer Centers. Diese haben menschlich, aber auch wirtschaftlich sehr positive Auswirkungen.
In anderen Ländern fällt die Förderung von Grundlagenforschung höher aus. Pro Kopf wird deutlich mehr Geld ausgegeben. In Großbritannien und den Niederlanden ist außerdem das Spendenaufkommen größer. Eine Ausnahme stellt hierzulande die Leukämie- und Lymphom-Forschung mit einem breiteren Netzwerk dar. In der Summe bewegt sich das Forschungsniveau in Deutschland eher im Bereich Seltener Erkrankungen. Immerhin sind wir in der Onkologie bei der klinischen Versorgung recht gut aufgestellt.
Beim Thema Grundlagenforschung meinen einige, da müsse noch viel mehr getan werden. Andere wiederum behaupten, es dürfe nicht sein, dass Arzneimittelhersteller die wissenschaftlichen Ergebnisse für die Entwicklung eines Medikamentes nutzen. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Pharmaindustrie?
Prof. Kalle: Wenn wir klinische Studien zur Neuentwicklung von Arzneimitteln betrachten, sind diese sehr akademisch und kommen somit der Grundlagenforschung sehr nahe. Wenn man so will, handelt es sich hierbei um eine Mischform. Bestimmte Arten der Grundlagenforschung haben stark zugenommen. Dies wird gerade in der Krebsforschung mittlerweile viel rationaler betrieben. So wurde zuletzt nach dem molekularen Schalter gesucht, der die Antikörper gegen Krebszellen stimuliert. Mit Erfolg. Ein Proof of Principle (Ein grundlegender Beweis/Anmerkung der Redaktion).
Für die Entwicklung eines Arzneimittelprodukts sind sehr hohe Aufwendungen nötig. Die Rolle der Pharmaunternehmen ist es, diesen Proof of Principle für Patienten umzusetzen, ihn kommerziell weiterzuentwickeln. Sie sind darauf spezialisiert einen Wirkungsmechanismus in eine Fertigung mit Marktzulassung umzusetzen. Das ist ihre Stärke und ein Modell, das gut funktioniert. Eine bessere Alternative ist aus meiner Sicht schwer zu finden.
Wie ist der weitere Weg der Immunonkologika einzuschätzen? Welches Potenzial besitzen sie?
Prof. Kalle: In der Immunonkologie hat man den Beweis erbracht, dass sich das körpereigene Immunsystem dafür reaktiveren lässt, wenn es enthemmt wird. Bestimmte Tumorerkrankungen lassen sich auch nach hoher Zahl der Mutationen behandeln. Der Proof of Principle wurde erbracht, die Wirksamkeit belegt. Es sind noch weitere Anwendungen denkbar: Etwa zu untersuchen, ob die Checkpoint-Inhibitoren bei Langzeitverläufen wirken. Zurzeit herrscht viel Optimismus, dass noch mehr möglich ist. Insgesamt ist das eine schöne Entwicklung.