Welche Rolle spielen Behandlungen mit nicht zugelassenen Medikamenten im klinischen Alltag?
Prof. Alfred Simon: Individuelle Heilversuche, aber auch offiziell beantragte Härtefall-Programme und der sogenannte Off-Label-Use spielen eine wichtige Rolle im medizinischen Alltag. Es gibt beispielsweise Präparate für die aus unterschiedlichen Gründen keine Studiendaten für eine bestimmte Patientengruppe vorliegen. In der Kindermedizin ist dies recht häufig der Fall. Sind keine Behandlungsalternativen vorhanden und weiß man, dass ein Medikament gegen eine bestimmte Erkrankung bei Erwachsenen gut wirkt, so liegt es nahe, dieses Medikament nach sorgfältiger Abschätzung der Risiken bei Kindern einzusetzen – selbst wenn es für sie nicht zugelassen ist. Es gibt aber auch Fälle, in denen Medikamente, die noch gar keine Zulassung besitzen – weder für eine andere Patientengruppe noch für eine andere Indikation – als letzte Hoffnung eingesetzt werden.
Welche Voraussetzungen rechtfertigen einen Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel?
Prof. Simon: Grundsätzlich sollte man individuelle Heilversuche nicht mit „Schüssen ins Blaue“ verwechseln. Auch wenn bei einem Patienten keine andere Therapie mehr anschlägt, geht man nicht jedes Risiko ein. Eine gewisse Evidenz, die nahelegt, dass ein Medikament helfen könnte und der Nutzen die Risiken überwiegt, ist immer gefordert. Da die in Frage kommenden Wirkstoffe weniger erforscht sind als solche, die bereits zugelassen wurden, ist eine sorgfältige Nutzen-Schaden-Abwägung des behandelnden Arztes unverzichtbar und eine ethische Mindestanforderung. Darüberhinaus muss der betroffene Patient darüber informiert sein, dass es sich bei der Behandlung um einen Versuch handelt. Ihm müssen die Chancen und die Risiken realistisch vermittelt werden. Zudem muss alles lückenlos dokumentiert werden.
Wie gehen Ärzte im Fall von individuellen Heilversuchen vor?
Prof. Simon: Zunächst müssen sie ein passendes Medikament ausmachen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Zum Beispiel wenn ein Medikament schon im Ausland zugelassen ist, aber eben noch nicht in Deutschland. Nicht selten ist das Medikament dem Arzt auch aus einem anderen Kontext bekannt – aus der Behandlung einer anderen Krankheit oder einer anderen Patientengruppe. Bei Medikamenten, die noch gar keine Zulassung besitzen, ist es etwas schwieriger, da diese nicht bei den zuständigen Zulassungsbehörden gelistet sind. Dann können Ärzte zum Beispiel über wissenschaftliche Paper oder Kongresse darauf aufmerksam werden. Ist ein Medikament gefunden, muss der Arzt den Hersteller kontaktieren und um die Bereitstellung bitten. Die Bedingungen für die Bereitstellung müssen ebenso individuell vereinbart werden wie eine mögliche Kostenübernahme durch die Krankenkasse.
Welchen Vorteil haben Hersteller von der Bereitstellung eines Medikaments für individuelle Heilversuche?
Prof. Simon: Im besten Fall – nämlich dann, wenn ein individueller Heilversuch erfolgreich verläuft – könnten sich für den Hersteller eines Medikaments neue Patientengruppen auftun. Der Gedanke dahinter: Wenn ein Medikament im Einzelfall hilft, lassen sich hierauf vielleicht größer angelegte Studien aufbauen.
Welches Risiko sehen Sie im Zusammenhang mit individuellen Heilversuchen?
Prof. Simon: Problematisch können sicherlich Missverständnisse beim Patienten sein. Umso wichtiger ist es, dass das erhöhte Risiko, das beim Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel besteht, vom Arzt gewissenhaft abgeschätzt und dem Patienten ungeschönt kommuniziert wird. Eine Vernachlässigung der Risiken wäre ethisch nicht vertretbar, da es bei individuellen Heilversuchen – wie der Name schon sagt – um die Heilung des Patienten geht. Läge dem Ganzen keine fundierte positive Nutzen-Schaden-Analyse zugrunde, müsste man vielmehr von Menschenversuchen sprechen.
In welchen Fällen wäre eine Ablehnung eines individuellen Heilversuchs durch den Hersteller gerechtfertigt?
Prof. Simon: Die Unternehmen müssen den Einsatz eines nicht in Gänze geprüften Medikaments vertreten können. Sie müssen somit zu einer eigenen Nutzen-Schaden-Einschätzung kommen. Gerechtfertigt wäre eine Ablehnung eines individuellen Heilversuchs dann, wenn die Unternehmen zu der Einschätzung kommen, dass die Risiken den möglichen Nutzen in dem jeweiligen Einzelfall übersteigen – die Nutzen-Schaden-Einschätzung also negativ ausfällt.