AMNOG – Wie viel Patientennutzen steckt in “Kein Zusatznutzen”?

Wie ein Damoklesschwert hängt das Votum „Kein Zusatznutzen“ über AMNOG-geprüften Produkten. Dabei wollen manche Arzneimittel nicht in erster Linie besser sein – sondern nur anders.

Dem einen hilft es, dem anderen nicht: Jeder kennt die Erfahrung, dass ein Medikament nicht bei jedem Menschen gleich wirkt. Deshalb ist es für eine erfolgreiche Therapie wichtig, auf Alternativen zurückgreifen zu können, was insbesondere für komplizierte oder langwierige Erkrankungen gilt. Der Arzt hat optimalerweise mehrere Entscheidungsmöglichkeiten und kann ausprobieren, ob ein Medikament bei einem konkreten Patienten anschlägt oder eben nicht. Oder ob es zwar wirkt, aber die Nebenwirkungen nicht tolerabel sind. Therapieoptionen zu haben sind in der modernen Medizin ein Wert an sich.

 

Aber Therapieoptionen haben es unter dem AMNOG schwer. Denn das Reformgesetz fragt nach dem Zusatznutzen eines Medikaments gegenüber einer Vergleichstherapie. Es will wissen: Ist Arzneimittel A besser als Arzneimittel B? Und wenn A nicht besser ist, ergibt sich fast automatisch: Es hat keinen Zusatznutzen. Die Folge ist, dass es als Nachahmerprodukt oder Me-too in die wenig innovative Ecke gestellt wird. Das ist vor allem aus Sicht der Krankenkassen attraktiv, denn je geringer der attestierte Zusatznutzen ist, desto einfacher ist das Ansetzen der Preiszange.

Eine Frage aber ist: Wird dieses A/B-Muster der komplexen Wirklichkeit im medizinischen Alltag gerecht? Stellt das AMNOG immer die richtige Frage? Oder genauer: Stellt es eine eigentlich richtige Frage in einem falschen Kontext?

Arzneimittel-Resistenzen erfordern pharmazeutische Vielfalt

Dieser Kontext ergibt sich beispielsweise da, wo Resistenzen gegen Arzneimittel ins Spiel kommen; in der Krebsbehandlung ist das geradezu ein Alltagsthema. Hier ist es wichtig, dass den Ärzten im Sinne einer sequenziell planbaren Therapie ein Arsenal von Medikamenten zur Verfügung steht, das sie einsetzen können, wenn die Therapie unter einem bestimmten Präparat nicht mehr funktioniert. Die Frage ist hier nicht mehr, ob A besser als B oder besser als C ist. Auch aus Patientensicht zählt hier die Vielfalt.

Resistenzen spielen auch bei der Behandlung von Infektionen eine große Rolle. Doch die händeringende Suche nach neuen Antibiotika könnte mit der strikt angewandten „A-besser-als-B-Methode“ schnell in einer Sackgasse enden. Denn wenn das vermeintlich bessere (oder gleich gute) Produkt nicht mehr wirkt, hat das angeblich unterlegene Präparat plötzlich sehr wohl einen Zusatznutzen, einfach weil es wirkt und das, obwohl es vielleicht seltener anspricht oder sogar mehr Nebenwirkungen hat. Nach diesem Muster würde das AMNOG dringend benötigte Therapiealternativen in ihrem Wert nicht erkennen. Das hat Folgen.

AMNOG als Grund für den Marktaustritt?

 

Denn immer öfter erweist sich das AMNOG als „Markteintrittsbarriere“1. So ist die Verfügbarkeit von durch die EU-Zulassungsbehörde EMA zugelassenen Präparaten rückläufig. Vor dem AMNOG wurden 95 Prozent dieser Mittel in Deutschland eingeführt; aktuell sind es rund 77 Prozent. Die Gründe sind vielfältig; die Debatte um das Epilepsie-Mittel Perampanel zeigt beispielhaft, dass zwischen dem methodischen Ansatz des AMNOG und dem klinischen Alltag manchmal der größte anzunehmende Graben liegen kann: Das belegt nicht nur der Blick in das Protokoll der mündlichen Anhörung im Rahmen der AMNOG-Verfahrensordnung. Das zeigt sich auch an den Reaktionen, als der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) auch im zweiten Verfahren über ein „Kein Zusatznutzen“ nicht hinauskam.

 

Epilepsie ist eigentlich eine gut behandelbare neurologische Erkrankung; viele Menschen haben sie dank guter Arzneimittel anfallsfrei im Griff. Eigentlich – denn zwischen 20 und 30 Prozent der Patienten gelten als therapieresistent. Das sind laut Deutscher Epilepsie-Vereinigung immerhin rund 100.000 bis 150.000 Menschen. Für die meisten von ihnen gilt: „Eine Verbesserung der Behandlungsoptionen […] ist nur möglich mit einem Präparat, das bisher noch nicht verfügbar war“. Die Bewertung des IQWiG? Realitätsfern, so die Vereinigung.

Epilepsie: Methodik meets Versorgungspraxis

Das Verdikt „Kein Zusatznutzen“ ergab sich aus rein methodischen Gründen: Placebokontrollierte Studien, wie vom Hersteller vorgelegt, reichten den Hütern des AMNOG nicht. Sie vermissten Vergleichsstudien mit auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln. Die Sinnhaftigkeit stellt der Epilepsie-Experte Dr. Thomas Mayer im Pharma-Fakten-Interview in Frage: „Für Studien mit neuen Medikamenten kommen in aller Regel nur jene Patienten in Frage, für die bisher keine wirksame Therapie existiert. Vergleichsstudien erübrigen sich dann. Zeigen diese Patienten bei Behandlung mit dem neuen Medikament eine Verbesserung des Zustands, so liegt in diesem individuellen Fall offensichtlich ein Zusatznutzen vor. In kaum einem anderen Bereich erkennen Arzt und Patient den Effekt einer Therapie in der Praxis so schnell wie in der Epilepsie – der Patient bekommt keine Anfälle mehr.“

Gefährdet die Nutzenbewertung die Patientenversorgung?“, fragte die Deutsche Apothekerzeitung und befand sich damit in Einklang mit Fachgesellschaften und Patientenorganisationen. Letztere starteten sogar eine Petition, die nun im Bundestag zur Entscheidung vorliegt: Sie fordern eine Reform des AMNOG mit der Begründung: „Hätten die heute geltenden Regelungen bereits vor zwanzig Jahren gegolten, wäre seitdem kein einziges Medikament gegen Epilepsie mehr in Deutschland eingeführt worden.“ Der Hersteller zeigte sich „fassungslos“, dass ein Medikament mit einem neuen Wirkmechanismus keine Gnade vor der AMNOG-Exekutive fand. Er stellte den Vertrieb in Deutschland ein und sorgte dafür, dass das Produkt den rund 5.000 Epilepsie-Patienten, die mit dem Wirkstoff behandelt werden, über ein Importprogramm weiterhin zur Verfügung steht. In den meisten europäischen Ländern ist das Medikament erhältlich und erstattungsfähig.

Refinanzierung von neuen Therapiemöglichkeiten

Das Signal aber, dass von solchen Verfahren ausgeht, ist ein verheerendes: Es zeigt Unternehmen, dass sie nicht damit rechnen können, die in die Forschung gesteckten Gelder für neue Präparate je wiederzusehen – und dass nur, weil die hier angewandte Methodik nicht mit der Krankheit in Einklang zu bringen ist. Doch wie soll sich der pharmazeutische Unternehmer verhalten? Studien machen, die zwar wenig sinnvoll bzw. ethisch kaum verantwortbar sind, dafür aber die Methodenhoheit bei IQWiG und G-BA berücksichtigt?

Das Beispiel Epilepsie ist kein Einzelfall. Auch bei einem Präparat gegen die Schuppenflechte (Psoriasis) erlaubte die festgelegte Methodik keine Attestierung eines Zusatznutzens. Der Fall ist ähnlich gelagert: Eine komplexe chronische Erkrankung, viele Patienten, die händeringend auf neue Therapien warten, ein neuer Wirkmechanismus und eine Methode, die an den Interessen der Patienten offensichtlich vorbeigeht. Psoriasis-Experte Dr. Frank Behrens fasste es in der Anhörung zu Apremilast so zusammen: „[…] wichtig für uns ist, dass wir viele Therapieoptionen über die Zeit haben, damit wir den Patienten in ihrer Krankheitskarriere viele Optionen anbieten können. Es wurde gesagt, wir hätten viele Optionen. Das sehe ich als Behandler anders.

Psoriasis-Patienten mit schweren Verläufen werden meist mit Immunsupressiva oder gentechnisch hergestellten Arzneimitteln behandelt – potente und meist gut verträgliche Medikamente, die aber halt nicht bei jedem wirken – und schon gar nicht dauerhaft. Denn „die Idee, dass der Patient auf eine Therapie eingestellt wird, auf der er glücklich bleibt, ist illusorisch“, so Behrens. Hier schließt sich der Kreis: Es geht um ein Medikament, das anders sein will – deshalb der neue Wirkmechanismus. Bei einer chronischen Krankheit wie der Schuppenflechte, die die Patienten ihr Leben lang begleitet, ist „anders“ aber bereits ein Zusatznutzen an sich. Es geht es um Optionen und um Vielfalt, es geht um den Zusatznutzen im konkreten Einzelfall, nicht im namenlosen Kollektiv. Hier hat das AMNOG noch einiges zu lernen.

Quellen:

1 Dieter Cassel, Volker Ulrich: AMNOG – das Bermuda-Dreieck der GKV-Arzneimittelversorgung; in: Implicon plus 10/2015, S. 6.

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: