Soll die freie Gestaltung der Arzneimittelpreise im ersten Jahr nach Zulassung fallen?
Prof. Wolfgang Greiner: Wir haben das theoretische Einsparpotenzial einer Rückwirkung des verhandelten Rabattes auf die ersten zwölf Vertriebsmonate mit DAK-Daten berechnet. Es zeigt sich, dass die Wirkung des ersten Jahres mit freier Preisgestaltung eher überschaubar ist.
An was machen Sie das fest?
Prof. Greiner: Für die DAK-Gesundheit konnten wir ein Einsparpotenzial ermitteln, welches sich für die ersten vier AMNOG-Jahre auf gerade einmal 41 Millionen Euro aufsummiert. Anders ausgedrückt: Das potenzielle Einsparvolumen durch eine Rückwirkung des Nutzenbewertungsrabattes hätte im Jahr 2014 0,5 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben dieser Krankenkasse entsprochen oder knapp 7 Prozent des arzneimittelbezogenen Ausgabenanstiegs von 2013 auf 2014. Zudem haben zuletzt bekannt gewordene Vereinbarungen zwischen dem Hersteller eines neuen Hepatitis-C-Präparates und dem GKV-Spitzenverband exemplarisch gezeigt, dass es auch außerhalb einer gesetzlichen Korrektur konsensfähige Rückwirkungsmodelle gibt. In diesem konkreten Fall hatten sich Hersteller und Spitzenverband darauf geeinigt, dass der reduzierte Preis bereits nach neun Monaten gilt.
Wie bedeutsam sind diese Einstiegspreise für das Gesundheitssystem?
Prof. Greiner: Zu berücksichtigen sind zwei Komponenten: Die Umsatzentwicklung neuer Arzneimittel, insbesondere in der zwölfmonatigen Phase freier Preisgestaltung, sowie die Höhe anschließend vereinbarter Rabatte, welche ab dem 13. Monat gelten. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren kann bislang kein schwerwiegendes Problem bei der freien Preisbildung festgestellt werden.
Welche Preisentwicklungen stellen Sie bei neu zugelassenen Medikamenten fest?
Prof. Greiner: Bei der weit überwiegenden Zahl neuer Medikamente sind die Umsätze im ersten Jahr noch nicht sehr groß, sondern entwickeln sich erst allmählich, also eine „normale“ Marktdurchdringung. Die sprunghafte Verordnungsentwicklung neuer Hepatits-C-Präparate unmittelbar nach Zulassung stellt unter den AMNOG-Präparaten also die Ausnahme von dieser Regel dar. Werden alle AMNOG-Wirkstoffe berücksichtigt, für die seit Marktzugang bis zum 30. Juni 2015 zwei volle Beobachtungsjahre vorliegen (n=50), erzielen nur zwei (Boceprevir, Telaprevir) im ersten Vertriebsjahr über eine Million Euro mehr Umsatz als im zweiten. Eine entsprechende Entwicklung ist zudem für Sofosbuvir und die Fixkombination Ledipasvir und Sofosbuvir zu erwarten.
Wem hilft das AMNOG?
Prof. Greiner: Das AMNOG hat auf vielen Ebenen nützliche und zum Teil dringend benötigte Diskussionen und damit auch Entwicklungsprozesse angestoßen. Die durch die systematische Analyse und Bewertung der Studiendaten gewonnene Transparenz über die Wirksamkeit neuer Arzneimittel im Vergleich zu verfügbaren Therapiealternativen ist einmalig und als großer Gewinn zu betrachten. Und letztlich hat die frühe Nutzenbewertung auch als Katalysator der Methoden der evidenzbasierten Medizin gewirkt.
Wie bewerten Sie die Diskussion um Surrogatparameter?
Prof. Greiner: Ich teile die methodische Skepsis bei Surrogatparametern, soweit ihre Wirkung auf finale Ergebnisgrößen wie Mortalität nicht gut belegt ist. Hier ist in der Regel noch großer Forschungsbedarf. Auch die Einbeziehung von Lebensqualitätsdaten läuft noch nicht so, wie von den Verfahrensbeteiligten gewünscht. Immerhin 71 Prozent (n=84) aller bis Mitte 2015 vorgelegten Herstellerdossiers enthalten Angaben zu diesem Endpunkt. Noch knapp die Hälfte der Hersteller leitet aus diesen Daten einen Vorteil Ihres Präparates im Endpunkt Lebensqualität ab.
Welche methodischen Schwierigkeiten sehen Sie hier?
Prof. Greiner: Der G-BA schloss sich bislang jedoch nur in sieben Fällen dieser Einschätzung an, was überwiegend methodisch begründet wird. Die von G-BA und IQWiG angeführten Ablehnungsgründe wie zum Beispiel die zum Teil geringen Responsequoten auf die Lebensqualitätsfragebögen sind vor dem Hintergrund der in der Arzneimittelnutzenverordnung genannten “bestverfügbaren Evidenz” (§ 5 Abs. 3 AM-NutzenV) kritisch zu hinterfragen.
Aus welchem Grund?
Prof. Greiner: Der bislang in den Dossiers am häufigsten verwendete Fragebogen ist der krankheitsübergreifende EQ-5D. Nach Einschätzung des G-BA ist dieses Instrument zur Anwendung im deutschen Versorgungskontext nicht geeignet. Begründet wird dies damit, dass der EQ-5D im Vergleich zu anderen generischen Instrumenten eher in Bewertungssystemen mit Kosten-Nutzen-Bewertungen geeignet sei.
Teilen Sie diese Auffassung?
Prof. Greiner: Nein, diese Sicht auf den EQ-5D ist falsch. Vor dem Hintergrund, dass G-BA und IQWiG selbst immer wieder Daten zu patientenberichteten Endpunkten bzw. zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität fordern, ist der Umgang des G-BA mit den Ergebnissen eines international etablierten und als eines der Standardinstrumente geltenden Lebensqualitätsmessinstrumentes wie dem EQ-5D unverständlich.
Welche Themen sind im Zulassungsverfahren anzugehen – was schlagen Sie jeweils vor?
Prof. Greiner: Das Zulassungsverfahren hat sich über die Jahre sehr bewährt. Anzustreben ist eine bessere Abstimmung mit den HTA-Behörden der einzelnen Länder, was die Studienanforderungen angeht. Dies wäre einfacher, wenn auch die Zusatznutzenbewertung (nicht die Preisverhandlungen) europäisch zusammengefasst wäre wie heute schon die Zulassung.
Was halten Sie, auch aus ökonomischen Gründen, von nationalen Gesundheitsplänen, um z.B. Hepatitis C zu eliminieren?
Prof. Greiner: Die neuen Arzneimittel zur Heilung von Hepatitis stellen eine große Kostenbelastung für das deutsche Gesundheitswesen dar, aber es besteht einhelliger Konsens bei allen Beteiligten, dass die große Chance besteht, eine wichtige tödliche Krankheit zu besiegen. Aus meiner Sicht bedarf es dazu keines gesonderten nationalen Gesundheitsplanes, aber das sollen die klinischen Fachleute in diesem Bereich entscheiden.